Das Buch von der fehlenden Ankunft (Lina Atfah)

Für uns Bücherwürmer ist heute Feiertag. Am 23. April feiern wir alljährlich den Welttag des Buches und ich möchte das gerne mit diesem, wie ich finde, bemerkenswerten Stück Lyrik tun. Wer danach immer noch nicht genug von Satzkunst und Gedichten hat, den möchte ich einladen heute am Abend ab 18 Uhr an der “Langen Nacht der Lyrik” auf der Facebook-Seite des Schöffling Verlages teilzunehmen. Bis 1 Uhr in der Nacht, werden 70! Autor*innen und Dichter*innen lesen und ich freu mich drauf!

Aber jetzt erst zu diesem Schätzchen und zu seiner Autorin, Lina Atfah. Atfah wurde 1989 in Salamiyah geboren und hat in Damaskus Arabische Literatur studiert. 2014 verließ sie nach Drohungen und Beschuldigungen, Gotteslästerung begangen zu haben, ihre Heimat Syrien, heute lebt sie in Herne. Als erste in Deutschland lebende Preisträgerin wurde Atfah für diesen Gedichtband mit dem LiBeraturpreis 2020 ausgezeichnet.

Das Buch von der fehlenden Ankunft ist zweisprachig, was für mich, die des arabischen nicht mächtig ist, optisch ein Leckerbissen ist und es macht Atfahs Gedichte so einer noch breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

Es liegt Wehmut in ihren Versen, Trauer und Vermissen in ihren Sätzen, aber ohne Anklage, ohne Vorwurf. Genau das macht es, das sie mich so anpacken. Sie sind ein Pladoyer für die Menschlichkeit. Man liest sie nicht mal eben so, oder um sich etwas Gutes zu tun. Man liest sie gegen das Vergessen. Man liest sie und wird leise. Man liest sie und wird stumm. Aber innerlich schreit und rumort es. Das Herz wird einem wund. Sie sind ein Wechselbad für mich und ich erkenne Lina Atfah in ihnen.

Ennui

- Was tut die Sprache?
Sie hält dir einen Spiegel vor, in dem du die Einsamkeit bar
jeden Lärms siehst
- Wo soll ich hin mit meinen Gedichten?
Hebe ein Grab aus im Kissen und schlaf, so werden die Träume wahr
- Was mache ich mit den Wolken?
Starre sie an, schon werden sie Regen
- Was fange ich an mit den Engeln auf meinen Schultern?
Rauche - der duftige Dunst lässt sie fliehen
- Was tun mit den Schmetterlingen, die die Luft liebkosen?
Zünde sie an und folge den Flammen
- Wie werde ich all die Gedanken los?
Mit dem Stock des Begehrens
- Was stelle ich an mit der Zeit?
Zerpflück sie als wär's ein Granatapfel
- Was soll ich lesen?
Lies, was im Verborgenen ruht
- Warum sterben die Dichter?
Um die Unsterblichkeit ihrer Namen zu prüfen
- Warum sterben die Tyrannen?
Damit die Völker leben können

(aus Lina Atfah aus das Buch der fehlenden Ankunft, übersetzt von Mahmoud Hassanein & Jan Wagner)

2013 musste ihr Mann Syrien verlassen und sie waren ein Jahr lang getrennt, in Ungewißheit und Sorge um den anderen. Ein Jahr in dem Lina immer wieder in Damaskus zu Befragungen vorgeladen wurde, bis man auch ihr die Ausreise gestattete. Danach verlor Lina ihre Sprache. Sie, die seit sie ein Kind war gedichtet hatte, konnte nicht mehr schreiben und die Sprache ihrer Wahlheimat Deutschland nicht sprechen oder verstehen. 2015 im Rahmen eines Projektes das “Weiter-Schreiben” heißt fand sie sie wieder und man übersetzte für sie aus dem Arabischen ins Deutsche. So entstand auch das “Buch von der fehlenden Ankunft“, an dem insgesamt 12 Übersetzer mitgewirkt haben.

Die Autorin Nino Haratischwili, die lange mit Atfah korrespondierte, schreibt im Vorwort “der fehlenden Ankunft” Atfah finde Worte für die, die sie verloren haben, sie suche nach Sprache inmitten von Sprachlosigkeit, verteile ihre eigenen “Herzsplitter”. Und ja, man muss vorsichtig sein, an ihnen kann man sich schneiden, weil sie erzählend konfrontieren mit einer Gegenwart, vor der wir uns am liebsten die Augen zu halten würden. Ein Entrinnen aber gibt es nicht, auch jetzt nicht in Zeiten einer Pandemie und vielleicht gelingen Atfah ihre Texte so gut, weil sie weiß wie es sich anfühlt, seine Sprache zu verlieren …

Am Rande der Rettung

Sie kommen auf dem Land-, dem See- oder dem Luftweg
fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt, von einer Grenze zu anderen
als seien die Landkarten Illusionen
und als sei ihr Anteil am Leben die Flucht
als ob das Land düstere Augen hätte, die im Nebel tränten
ich kannte meine Gasse im Schlaf wie meine Handfläche und
und die Straßen, die zur Stadtverwaltung führten
ich kannte die Geschichten der Familien, alle alten Frauen
und alle Mädchen, die vor Liebe in der Sit-Zainab-Straße 
herumstolperten
ich kannte alle Läden, jeden vom Gras gestörten Bürgersteig
ich kannte es, ich kannte es, ich kannte es
mir kam es so vor, als sei ich ein Lexikon meines Ortes
und wenn man mir sagte, oh Mädchen, das Reden ist nicht 
gestattet
weinte ich um meine Sprache ...

(aus Lina Atfah "Das Buch von der fehlenden Ankunft", übersetzt von Suleman Taufiq)

Nehmt Euch Zeit zum Lesen, heute und an allen Tagen die noch kommen. Sucht und findet sie, die Worte, die Euch berühren. Das wünsche ich Euch. Nicht nur heute, am Welttag des Buches! Eure Petra

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