Donnerstag, 21.06.2018
Immer wenn Freundschaften in die Brüche gehen fangen wir an und denken nach. Hätte ich mehr Zeit investieren müssen? Was war das “falsche” Wort, das plötzlich alles eskalieren ließ? Lohnt es sich zu kämpfen? Kann und will ich die Reaktion meines Gegenübers aushalten, wenn ich meine Gefühle auf den Tisch packe? Wer tut wem eigentlich unrecht und was ist ein Streit wert?
Jeder von uns hat wohl schon mal in einer Situation gesteckt, die diese oder ähnliche Fragen aufgeworfen hat. Je länger eine Eskalation zurückliegt, desto weniger erinnert man sich zumeist was im Grunde die Ursache des Streits gewesen ist. Einzig, das man böse aufeinander ist steckt einem wie ein Stachel im Fleisch.
Ein Roman, den ich vor Jahren gelesen habe, beschäftigt sich mit dem Thema Freundschaft auf eine Art und Weise, wie sie mir damals noch nicht, und bis heute auch nicht wieder untergekommen ist. Völlig unterschätzt man dabei, wie ich finde, das ein dänischer Bestseller-Autor, der in Deutschland mit einer Krimi-Reihe stets die vorderen Plätze der Spiegel-Besten-Liste belegt, auch ganz anders kann. Nachdenklich, eindringlich und zudem mit Blick auf Deutschlands nationalsozialistische Vergangenheit:
Das Alphabethaus (Jussi Adler Olsen)
“1944. Der Aufprall war unerwartet brutal. Der Boden war steinhart gefroren, die Ackerfurchen waren wie aus Beton gegossen.”
Bryan und James zwei britische Piloten und Freunde seit Kindertagen werden bei einem Luftangriff über Feindesgebiet in Deutschland abgeschossen. Beide überleben den Absturz ihrer Maschine und retten sich schwer verletzt auf einen Zug, wie sie sehr schnell merken handelt es sich um einen Lazarettzug. Die Waggons sind voll gepackt mit kriegsversehrten deutschen Offizieren und die Freunde wissen, sagen sie von jetzt an auch nur noch ein Wort, ist ihrer beider Leben verwirkt. Lassen Sie ihre Muttersprache erkennen, würde sie sie in den Tod schicken, augenblicklich und unausweichlich. Die beiden nehmen kurzer Hand die Identität zweier deutscher Soldaten aus ihrem Abteil an, werfen diese aus dem Zug, und man liefert Bryan und James in ein Sanatorium für Geisteskranke im Schwarzwald ein. Im sogenannten “Alphabethaus”, wo man die Insassen in Kategorien einteilt, wobei “A” zurück an die Front kann, “B” Erholung verdient und “C” ausmustert wird, lernen die beiden “Schweiger” schnell, dass man alles daran setzt Simulanten zu enttarnen. Elektroschock-Behandlungen sind an der Tagesordnung, lassen die Insassen zu sabbernden, hilflosen Figuren werden. Erinnerungen schwinden, an das wer man ist, was man ist und woher man kommt …
Fixiert in Zwangsjacken, übergriffigen Mitinsassen ausgesetzt, entfernen sich die beiden innerlich voneinander um sich und den anderen nicht zu gefährden. Der so entstehende Abstand scheint bald nicht mehr verkleinerbar und als einer der beiden seine Flucht zu planen beginnt und sie dann ohne den Freund antritt, zerreissen die Bande dieser Schicksalsgemeinschaft …
Ihm war eiskalt. In seinen Anstaltskleidern hier inmitten des Flußwasser. Die Rufe der Soldaten dringen bis an’s andere Ufer und erste Schüsse peitschen ihm um die Ohren. Wenn er nicht bald an Land konnte, würde er an Unterkühlung sterben. Die Suchhunde bellten unaufhörlich. Der Gedanke, dass es ihm lieber war, hier draussen in Freiheit zu sterben als drinnen in diesem Monster von einer Anstalt, beruhigte ihn beinahe. Er verdrängte den Gedanken an seinen Freund, den er dort zurück gelassen hatte und der ihm das, was er hier tat wohl nie verzeihen würde …
Jussi Adler Olsen, bekannt in Deutschland für seine Thriller-Reihe um Carl Moerck, begründete mit diesem Thriller der mehr ein Roman und sein erster ist, seinen Weltruhm.
Verstörend, aber nie reisserisch, hallt er bis heute in mir nach. Das Schicksal der beiden Freunde schildert Olsen bewegend und eindringlich. Mehr als gut nachvollziehen kann man dabei, wie es dem jeweils anderen damit geht wie sich der Freund verhält. Ihr merkt schon, ich mache gerade beschreibend einen Eiertanz, will auf keinen Fall zuviel verraten. Nur soviel, die Motivation von beiden arbeitet Olsen sehr gut heraus und man weiß nie, auf welche Seite man sich stellen soll, gleich wie aufwühlend das Handeln des Einzelnen dabei ist. Während der Eine in Verzweiflung versinkt, die ihn lähmt und handlungsunfähig macht, sind in dem Anderen der Kampfgeist und der Überlebenswille noch immer stark. Eine spektakuläre Flucht und vor allem die unglaublich realistisch geschilderte Atmosphäre in diesem düsteren Sanatorium geben dem Roman zusätzlichen Thrill. Gar nicht wissen will man, was man sich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges an medizinischen Experimenten so alles ausgedacht und was praktiziert hat. Vieles steht hier zwischen den Zeilen, Olsen ist ein Meister des Kopfkinos, Gänsehaut inklusive …
Ein Zeitsprung ins Heidelberg der heutigen Zeit macht die Geschichte zudem zu einer Zeitreise. Aber mehr noch als eine Reise durch die Zeit, durch eine finstere, belastete Epoche, ist es die Reise ins Innerste der beiden Freunde, welches die Handlung bestimmt und einen die Luft anhalten läßt.
Wieviel kann eine Freundschaft aushalten? Wie lebt man mit einer Schuld, die nicht vergeht, nicht einmal weniger wird? Wie mit dem Hass, der einem Verhalten folgt, wie der Rauch dem Feuer? Wieviel Erinnerung kann die Zeit tilgen, vermag sie tatsächlich alles zu heilen?
Mein Fazit: Wer die Carl Moerck Reihe von Olsen mag, der wird hier überrascht sein, diese Facetten von ihm kennenzulernen. Ich bin mir sicher, wäre dieser Roman unter einem Pseudonym veröffentlicht worden, hätte er deutlich mehr Leser erreicht, besonders diejenigen, die lieber abseits des Genres Krimi/Thriller unterwegs sind.
Ich durfte Jussi Adler Olsen im Rahmen einer Lesung schon live erleben. Dabei habe ich ihn als einen unglaublich charismatischen und sympatischen Autor wahrgenommen, der leger und seinen Lesern gegenüber sehr zugewandt auftritt. Seinen Humor und sein Augenzwinkern habe ich in seiner Figur Carl Moerck wiedergefunden, genau das mag ich an ihr. Im Alphabethaus zeigt er eine gänzlich andere, sehr nachdenkliche Seite.
Im Laufe der damaligen Veranstaltung war mir bald klar, warum ihm dieser Roman so authentisch gelungen ist: Sein Vater war der Leiter einer Nervenheilanstalt und er war als Junge oft in dessen Sanatorium zu Besuch. Hatte Umgang mit Menschen, darunter Mörder und Gewalttäter, die ihm mehr als nur ein Gesicht zeigten, deren Schreie bis in sein Kinderzimmer im Nachbarhaus zu hören waren … Wie sehr ihn das geprägt hat, kann man hier spüren. Die Faszination die ihn umtrieb zu ergründen, wie es möglich ist zu erkennen, wann und ob jemand simuliert, geben seinem Alphabethaus die Tiefe. Sein Vater dürfte ihm dabei ein guter Ratgeber gewesen sein …
Das eine der Figuren im Alphabethaus Petra heißt, es handelt sich um eine Krankenschwester die in Heidelberg lebt und Olsen damals schmunzelnd beim Signieren zu mir aufsah, als ich ihm meinen Namen nannte – Na, dazu muss ich Euch nicht mehr sagen. Gell?
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