Spiegelkabinett, Geisterbahn und Schießbude. Zuckerwatte, Kokosnuss, kandierte Äpfel, Nappo und der Duft von gebrannten Mandeln. Das gab es nur einmal im Jahr, auf dem Jahrmarkt. Ohne mich, ging nicht. Obwohl, vom Karussellfahren wurde mir ja immer schlecht, die Wunderbuden und die Leckerreien, die waren meins. Mit dem Zirkus durchbrennen, oder wenigstens mit einem gutaussehenden Schaustellersohn, das war der Inbegriff von Romantik. Für mich. Mit zwölf. Heute hat es den Rummel längst entzaubert. Heute bin ich erwachsen und die Schaustellerei steckt in der Krise und das nicht erst seit Corona.
“Wir waren die Budis und Budinen, die euch für ein nettes Lächeln einen Gratiswurf spendierten. Auf die Luftballons und die Blechdosen. Auf Milchkannen und Stofftiere. Wir waren die, die euch günstiges Bier verkauften und den Donnerbalken sauber hielten, so dass ihr es wieder loswerden konntet. Wir waren die, die ihr Streuner, Zigeuner, Rumtreiber, fahrendes Volk und Gauner nanntet … Wir waren die, die den Spaß erfunden haben. Vielleicht erinnert ihr euch daran.”
Textzitat Philipp Winkler Carnival
Carnival von Philipp Winkler
Heut’ bleibt der Kirmesplatz gesperrt. Heut’ ist er nur für die “Kirmser” geöffnet. Von überall her sind sie gekommen, um diese Hochzeit zu feiern. Es regnet Schokolade und Bonbons in den Dreck, nachdem sie das Brautbaar mit der Schleuder in den Himmel geschossen haben, die Kinder balgen sich. Dumm nur, dass der Braut ihr Ring gleich mit abhanden gekommen ist, in hohem Bogen sozusagen und die gesamte Hochzeitsgesellschaft rutscht auf Knien im Staub um ihn zu suchen …
Philipp Winkler, geboren 1986 in Hagenburg bei Hannover, lebt in Leipzig, für seinen Debütroman “Hool” erhielt er den ZDF aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt. Er schrieb sich damit auch auf die Short-List des Deutschen Buchpreises und einen Spiegel-Bestseller. Das habe ich jetzt davon, Hool werde ich lesen müssen, denn den Stil von Winkler fand ich umwerfend, seine Art zu verknappen, immer schön auf den Punkt.
Aber erst einmal geht es mit ihm auf die Kirmes und sein Blick darauf ist ungeschönt. Er schlägt Töne an, die ganz schön bitter klingen. Töne in denen aber auch Wehmut steckt, die wie ein Abgesang klingen. Kurz und bündig auf nur 119 Seiten schrumpft Winkler diese Welt und bricht gleichzeitig eine Lanze. Eine Lanze für einen ganzen Berufsstand.
Das tut er bisweilen ungeschliffen, aber stets ungemein treffsicher. Will sagen, ich bin betroffen, obwohl nicht beteiligt und wer das schafft hat bei mir einen Stein im Brett. Ich packe mich an meiner Nase und prüfe wie vorurteilsfrei ich den “Kirmsern” gegenüber unterwegs war und bin. Schaue in Pandemie-Zeiten auf eine Branche, die scheinbar niemand beachtet. Von deren Einbußen man eher nicht spricht. Im Fokus ist da eher die Lufthansa. Aus der Traum von Freiheit, vom grenzenlosen Unterwegssein, vom Traum eine Familie aus Freunden zu haben.
Wenn der Winter kommt gibt es bei uns Orangen. Wenn der Sommer kommt, bringt er den Zirkus und den Rummel mit. So war es als ich noch ein Kind war. Von einer Welt, von einem Leben bar jeder Romantik, von hinter den Kulissen, aus einer Parallelwelt quasi von der ich nichts weiß erzählt mir Philipp Winkler. Das so als wäre er einer von ihnen, authentisch, vielleicht auch desillusioniert und er spricht uns direkt an. Wenn er Euch sagt meint er uns und er berichtet von harter Arbeit, aber auch von einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das einen neidisch werden lässt.
Hier landeten sie, die Gestrandeten unserer Gesellschaft, teilten ihre Lebensanschauung, ihre Lebensentwürfe. Schausteller war kein Beruf, es war eine Berufung und hier hielten sie zusammen. Zusammen gegen den Rest der Welt. Winkler berichtet von einem Sterben auf Raten, von der Abschaffung der Langsamkeit, immer schneller, immer höher, immer weiter mussten Fahrgeschäfte ihre Passagiere schleudern. Die Kirmes die ich als Kind kennengelernt habe war schon nicht mehr die, von der Winkler zu Beginn schreibt. Bei uns gab es schon keine Boxbude mehr und auch kein Attraktionen-Zelt mit Messerwerfern und Hochseilartisten. Eine Wahrsagerin die gab es aber noch und ihre Tischdecke war mottenzerfressen …
“Das Patschencamp war damals der erste Teil der Kirmes, der verschwand. Wir mussten die Wahrsagerinnen und die Wunderheiler, die Handleserinnen und die Kartenleger sich selbst überlassen, weil ihr irgendwann von Betrug und Scharlatanerie schriet. So als ob ihr kein Interesse mehr an eurer Zukunft hättet, als ob ihr Angst davor hättet, was euch erwartet.”
Textzitat Philipp Winkler Carnival
Philipp Winkler hat einen sehr eigenwilligen, unverwechselbaren Sound. Hier schreibt er teils Wörter in einem Dialekt, den er eigens für die Kirmes erfunden haben muss? Eine Sprache die abgrenzt, besonders wenn man sie in der Gegenwart derer einsetzt die sie nicht verstehen. Wie das so ist mit Sprache, sie kann ebenso vereinen wie trennen. Das erleben wir auch andernorts …
Seine Sätze wirken auf mich, als seien sie Klage und Anklage zugleich. Wie ein Anwalt agiert er für diejenigen, die in den Schatten gedrängt wurden. Er ist ihre Stimme. In diesem Fall als “Chef” auf dem Kirmesplatz, der für das Auskommen untereinander und für das finanzielle Wohl dieser Gemeinschaft verantwortlich ist. Fragmentarisch, ohne zusammenhängende Grundhandlung lässt Winkler mich eine letzte große Hochzeit auf der Kirmes erleben. Verlieben untereinander ist eigentlich verboten, weil zumeist geht es halt nicht gut.
Glück und Leid liegen oft dicht beieinander. Die Beerdigung eines Urgesteins folgt auf das Jubelpaar, in dreizehn Runden tragen sie den Sarg über den “Midway”, die Kirmeshauptstraße. So will es die Tradition. Wie überhaupt Traditionen eine große Rolle spielen unter den “Kirmsern”.
Tragische Unfälle, die lebensverändernd sind, Kinder die verloren gehen, Popcorn in allen Geschmacksvarianten und Grillwurst. Schlägereien und Saufgelage. Kinderlachen und Sorgenvergessen. Gewichtheber und Ponyreiten. Das und vieles mehr ist/war der Carnival, “das Volksfest”. Das wir heute nicht mehr brauchen, weil wir die Besucher von einst, für den Spaß unsere Häuser ja gar nicht mehr verlassen müssen. Den Alltag vergessen. Vor dem Fernseher oder am PC. So geht das heute und wenn der Zirkus in die Stadt kommt, heben wir nur noch müde den Kopf. Drum ruft Winkler uns und der Kirmes ein letztes Hurra! zu und auch ich habe dabei eine Träne im Knopfloch …
“Aber was auch immer die Träume der Menschen gewesen sein mögen, deren Wege in den vielen Jahren die Pfade der Midway gekreuzt hatten, ob Kirmser oder Mark, sie alle waren Teil des einen großen Traums gewesen: der Traum von einem Ort, an dem jeder willkommen ist und der jedem, solange er das will, die Möglichkeit bietet, sich ein wenig zu verlieren, sich neu zu erfinden oder einfach nur eine verdammt noch mal gute Zeit zu verbringen.”
Textzitat Philipp Winkler Carnival
Mein Dank geht an den Aufbau Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
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