Bevor ich es vergesse (Anne Pauly)

Was bleibt wenn jemand geht? Tausend Kleinigkeiten in einer Schublade, manches davon hatte vielleicht Bedeutung. Für den, der jetzt nicht mehr da ist. Mehr als wir je wissen werden und welche? Wir räumen ein Leben aus, verpacken und entsorgen wenn jemand verstirbt. Behalten Erinnerungsstücke für uns, in denen wir sie oder ihn wiederzufinden hoffen. Suchen Trost in ihnen.

“Von einer geliebten Person, die uns verlässt, bleibt eine feine, immaterielle Substanz: eine Abwesenheit, die man wie eine Anwesenbeit empfinden kann, welche von nun an
nichts mehr zu trüben vermag.”

Textzitat Anne Pauly Bevor ich es vergesse S. 138

Wir hören auf unser Herz. Hoffentlich und tun was wir für richtig halten. So wie Anne Pauly es getan hat. Die uns in ihrem autobiographischem Roman <Bevor ich es vergesse> erzählt, wie sie und ihr Bruder nach dem Tod des Vaters dessen Habseeligkeit im Krankenhaus aufgesammelt haben. Das banale Aufzählen der Gegenstände, die sie in die Hand nehmen, in ihnen allen steckt was der Verstorbene gerne mochte, schmerzt sofort und unmittelbar, und so, als stünde man daneben, müsse es selbst aushalten. Jetzt wo sonst nicht mehr zu tun bleibt. Als nach Hause zu fahren.

Diese ersten Sätze und Szenen waren es, mit denen mich Paulys Geschichte sofort eiskalt erwischt hat. Nicht nur wer seinen Vater bereits verloren hat, so wie ich, kann hier mitfühlen. Das schafft die Autorin mühelos und mit einer Wehmut in ihrem Text, die schmerzhaft und schön zugleich ist.

Wie kann es gelingen, sich nach einem Verlust wieder mit Leben anzustecken? Weiterzumachen, die Formalitäten eines Begräbnisses zu überstehen, den passenden Sarg auszusuchen, man will bei der Aufzählung aller Weggefährten in der Todesanzeige niemanden der wichtig war vergessen. Das alles während man mit sich selbst und seinen ganz eigenen Empfindungen kämpft. Um Fassung bemüht ist. Für die anderen.

Wenn man plötzlich erkennt, beim Blick in den Spiegel, dass man fraglos die Tochter dieses Vaters ist. Der kein Heiliger gewesen war. Alle die jetzt Beileid wünschen erwähnen nicht ihn, sondern die Mutter. Denken zuerst an sie. Die das Paket zu tragen gehabt hatte. Wegen ihm hatte es in ihrem Zuhause immer Pauken und Trompeten gegeben und großes Drama. Er war ein Despot gewesen der Sonnenuntergänge liebte, Haikus las oder Gandhi. bis zuletzt. Als ihm nach dem Herzinfarkt, keine Frau und nur noch ein Bein geblieben war und der Krebs.

Anne Pauly, geboren 1974 in Poissy, Frankreich, legt mit »Bevor ich es vergesse« ihr Romandebüt vor und wurde aus dem Stand in ihrem Heimatland für alle wichtigen literarischen Preise nominiert. Als ausgezeichnet befanden die französischen Buchhändler:innen ihren Roman und vergaben den Prix Inter als »Bestes Buch des Jahres«. Aktuell arbeitet sie mit Virginie Despentes zusammen an einem Theaterstück.

Erst vor wenigen Wochen ist ihr Debüt in einer unfassbar schönen deutschen Übersetzung von Amelie Thoma und mit diesem herrlichen kirschroten Cover bei Luchterhand erschienen. Eine Hörbuch-Download-Fassung ist beim BonneVoice Hörverlag erhältlich. Ich bedanke mich herzlich bei beiden Verlagen für die Besprechungsexemplare.

Denn diesmal, fällt meine Besprechung etwas anders aus, habe ich doch für mich einen internen Wettbewerb ausgelobt. Dem Lesen diesen Textes stelle ich das Hören gegenüber, respektive umgekehrt. Wer kann womit punkten und wie stehe ich dazu, dass es immer seltener Hörbücher noch haptisch, sondern nur noch als Download gibt? Die Sammlerin in mir stöhnt innerlich auf, wenn ihr nach dem Hören eines Lieblingstitels nichts zum Anfassen bleibt.

Womit wir bei einem Plus für das Lesen der Print-Ausgabe wären. Sie bleibt mir. Als Liebling im Regal und die einzelnen Sätze der ungemein empfindsamen Übersetzung von Thoma wirkt beim Lesen etwas intensiver nach, weil man sie einfacher für sich wiederholen kann. Wohingegen die Lesung eindeutig durch ihre Vorleserin punktet. Nicht, dass mich das gewundert hätte, denn sie ist eine Bank:

Wiebke Puls, geboren am 12. Dezember 1973, deutsche Schauspielerin und Sängerin, ist auch in diesem Stoff schlicht und ergreifend umwerfend. Einhundertdreiundsiebzig teils traurige, mal lakonische Seiten schlagen in der ungekürzten Hörbuchfassung mit vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten zu Buche. Keine einzige davon möchte ich missen. Die Stimme von Wiebke Puls konnte ich rasch schon nicht mehr abschütteln, sie war die von Anne und so ergibt sich eine wunderbare Symbiose aus Text und Stimme. Wenn sich Anne Pauly für uns erinnert.

Kritisch, aber auch liebevoll, denn so einfach war und ist das alles nicht. Mit ihm gewesen. Mit ihr und insgesamt. Sie versucht ihren Vater im Rückgriff besser zu verstehen. Diesen Mann, der arm aufgewachsen war, dann einen im Grunde guten Job als Programmierer bei der IBM ergattert hatte, der ihn dann aber offenbar rasch langweilte, ohne das er ihn loslassen konnte.

Vielleicht begann deshalb seine Trinkerei und sein Interesse am Zen-Buddhismus wuchs, das war ihm irgendwie zur gleichen Zeit passiert. Wer kann schon sagen, meint Pauly, ob man trinkt um Schiffbruch zu erleiden oder Schiffbruch erleidet weil man trinkt. In jedem Fall verbrachten sie, seine Frau mit den beiden Kindern, in jener Zeit so manche Nacht umherfahrend im Auto. Weil es zu Hause schlicht nicht auszuhalten gewesen war.

Versäumnisse, verpasste Gelegenheiten und gebrochene Versprechen. Nichts außer Wut. Empfindet ihr Bruder. Bei der Beerdigung. Anne nimmt ihn bei der Hand und schweigt.

Inneres Schattentheater. Unterschwellige Gewalt. Wie lange kann man die Luft anhalten und ändert das etwas an den inneren Bildern, die sich wie in Endlosschleife wiederholen?

Pflegerische Routinen, Übereifriges und Hilfloses. Humor ist wenn man trotzdem lacht. Auch dieser Punkt geht eindeutig auch an Wiebke Puls und das Hörbuch. Spiel, Satz und Sieg für Ihren Vortrag! Der so einfühlsam, lebendig und einfach nur großartig ist.

Schlappen und Pflegecreme, Rasierer und Haarschneider. Er nennt sie mein Herz und meint es vielleicht auch so. Schließlich hatte er gegen sie nie eine seiner übergroßen Hände erhoben. Während der Pflege ihres Vaters kommt Anne ihm so nah, wie sie es ein Leben lang nicht gewesen ist.

Dabei komme ich ihr sehr nah. Dieser Vater/Tochter-Beziehung. Fühle ihn sehr, diesen inneren Zwiespalt Annes und wie sie der Angst ihres Vaters ins Gesicht sieht. Der Angst vor dem was kommen wird. Als beide wussten er würde sterben müssen.

Abstand erzeugt Nähe? Wie viel man bereit ist zu verzeihen, auch wenn man nicht vergessen kann. Weil da etwas ist, dass wir Liebe nennen. Zwischen Eltern und Kindern, zwischen Kindern und Eltern, die am Ende ihres Lebens oftmals wieder zum Kind werden.

Eine Jugendfreundin rückt das Bild des Vaters gerade. Sie hatte ihn so ganz anders gekannt und Anne hätte ihn gerne genauso erlebt und dann bringt ausgerechnet Céline Dion Anne zum Weinen. Schreckt ihr Vermissen auf. Was ein einzelner Brief vermag. Welche Kraft in tröstenden Worten stecken kann. Wir sollten uns genau damit Mühe geben!

Den schönen Erinnerungen gilt unser Selektieren, um genau die zu behalten. Etwas schützt uns und wir schaffen es, die schlimmsten von ihnen auszublenden. 

Ein Plus des Lesens in diesem Fall, das mich leichter meinen Gedanken nachhängen ließ und das mich bisweilen an den Roman <Schnell leben> von Brigitte Giraud erinnert hat, den ich sehr gerne mochte. Beide französische Autorinnen ähneln einander im Erzählton und beide verarbeiten autobiografisch einen Verlust.

Pauly, besticht mit einer Prise mehr tragischem Humor und tritt den Beweis an, das sich Nachdenklichkeit und Lakonie nicht gegenseitig ausschließen. Die Leichtigkeit mit der ihr das gelingt, hat mich sehr beeindruckt. Wie sie uns, an dem teilhaben lässt, was sie so tief berührt hat ebenfalls und ich entscheide für mich, dieser textlichen Qualität wegen auf ein Patt zwischen dem Lesen und dem Hören. Amelie Thoma findet Worte im Deutschen, die man für sich stehen lassen möchte, um sie immer wieder in Ruhe betrachten zu können. Das geht nur auf gedruckten Seiten.

Dann aber hat es eben auch diese grandiose Wiebke Puls. Nur sie kann der Traurigkeit eine Stimme geben, durch die noch Hoffnung und Wärme schimmern können.

Trauer ist ein Prozess. Man kann ihn nicht verkürzen, so sehr man sich das auch wünschen mag, man muss ihn abarbeiten. Kein Weg führt daran vorbei. 

“Man ist nie zu alt, um sich verwaist zu fühlen. Man vergisst nie, man zähmt nur das
Gefühl des Mangels, jeder mit seinen eigenen Mitteln …” 

Textzitat Anne Pauly Bevor ich es vergesse S. 138
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