Auf versunkenen Wegen (Sylvain Tesson)

Ob als Teilnehmer wissenschaftlicher Expeditionen, zu Fuß im Himalaya, unterwegs mit dem Motorrad von Moskau nach Paris oder sechs Monate allein in einer Hütte am Baikalsee, die Gesichten des Reiseschriftstellers Sylvain Tesson und seine Unternehmungen im Selbstversuch faszinieren auf eine ganz besondere Art und Weise. Nicht nur mich und zahlreiche andere Leser:innen, sondern auch renommierte Literaturpreis-Jurys, wie etwa die des Prix Goncourt de la nouvelle, die seit 1974 Kurzgeschichten prämiert oder die des Prix Médicis für Romane und Erzählungen.

Sylvain Tesson, Sohn einer Ärztin und eines Journalisten, geboren 1972 in Paris, studierte Geographie, unternahm 1997 seine erste Fahrradreise nach Zentralasien. Der Filmemacher und Bestseller-Autor, stürzte 2012 vom Dach eines Hauses und verletzte sich so schwer, dass er ins Koma fiel. Etwa ein Jahr nach seinem Absturz, halbwegs wieder auf den Beinen, beschloß er zu seiner Rekonvaleszenz, in der Zeit vom 24. August bis 08. November, sein Heimatland Frankreich, auf einer Strecke von rund 1.300 km, zu durchwandern. Die Geschichte dieser Reise, die ihn zu sich führen sollte, avancierte zum Bestseller, wurde 2023 von Denis Imbert unter dem Titel “Auf dem Weg” mit Oscar und Golden Globe Preisträger Jean Dujardin in der Hauptrolle verfilmt und 2024 mit dem ITB Buch Award ausgezeichnet. Dujardin, der 2012 als Bester Hauptdarsteller für seine Rolle in The Artist ausgezeichnet wurde, lockte in Frankreich auf den Spuren Tessons über eine Million Zuschauer in die Kinos, nicht zuletzt deshalb weil man ihn in und vor grandiose Landschaften stellte. Die Taschenbuch-Ausgabe ist bei Penguin Random House erhältlich, ich darf mich herzlich für das Besprechungsexemplar bedanken.

“Mit schwachem Schritt stieg ich zum Pass hinauf. Strohgelbe Gräser streichelten die Abendluft. Ihre Verbeugungen waren ein erstes Bild von Zuneigung, von unverfälschter Schönheit.”

Textzitat Sylvain Tesson Auf versunkenen Wegen

Auf versunkenen Wegen von Sylvain Tesson – aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt, diese hier nimmt ihren Anfang an Frankreichs Grenze zu Italien. Im TGV war Tesson ihr entgegen geeilt. In Gedanken bei seiner Familie und seiner verstorbenen Mutter. Auch für sie wollte er laufen, der Ruhe und der Stille entgegen. Sich selbst heilen mit dieser Wanderung.

Ruhe habe ich in einer angespannten Phase zwischen seinen Tagebucheinträgen gefunden. Die sich sprachlich samtig anfühlen, manchmal lakonisch, ganz oft poetisch. Ich darf leise sein und allein, dachte ich im Stillen bei mir, lasse meine Gedanken fallen in Sylvain Tessons Sätze. Lasse mich in Ruhe. Atme aus. Lange.

Das was ihm gelingt, funktioniert bei mir mit keinem Roman. Das es in mir still wird. Das ich Bilder sehe, ganze Landschaften von atemberaubender Schönheit.

Nicht wenige wandern auf dem Jakobsweg, weit weg von zu Hause um bei sich anzukommen. Ertragen dafür Blasen, Muskelschmerzen, Hitze und Staub und Massenunterkünfte. Massen die auf dem Weg sind. 

Der Essayist Tesson kennt Entbehrungen, wagte er sich doch bereits vielfach auf Terrain, das den meisten von uns unzugänglich bleiben wird und nimmt seine Leserschaft dabei, respektive hernach, erzählend so kundig bei der Hand, als wären wir mit ihm dort gewesen.

Diesmal läuft er quasi vor der eigenen Haustüre los und weiß uns dennoch zu verblüffen und zwar indem er uns u.a. erfahren lässt, wie viele Landstriche, betrachtet man eine Karte Frankreichs, zu den sogenannten “hyperländischen” Regionen gezählt werden. Genau gesagt sind es 250 Lebensräume, die gemäß einer Regierungsstudie geografische Abgeschiedenheit, eine geringe Bevölkerungsdichte, fehlende Infrastruktur, ein geringes Angebot an Dienstleistungen, sowie das Fehlen finanzieller Mittel ausweisen. Eine sehr dudenhaft sachliche Beschreibung für ausgestorbene Dörfer und verlassene Gegenden. Ich sehe klappernde Fenterläden vor mir, leere Häuser und Länden.

Wege, die keine mehr sind, führten Tesson vom Südosten in den Norden Frankreichs. Sein Wagemut liegt diesmal darin über seine eigenen Grenzen hinaus zu gehen, seine Wut auf seine körperlichen Einschränkungen zu besiegen, hinter sich zu lassen was ihn belastet. Sich seinen Schmerzen erneut zu stellen. Was für ein mentaler Kraftakt das gewesen sein muss, sich den stillen Geheimnissen dieser Landschaften zu öffnen. Die zu finden, die noch jenseits des Drills landwirtschaftlicher und chemischer Traktionen liegen. Vorbei an Lavendelfeldern, wo der Boden betonhart ist und wo kein Insekt mehr summt. Das stimmt auch traurig.

Wie man es von ihm kennt, zitiert er dabei den ein oder anderen Philosophen, rastet zwischen umherhuschenden Eidechsen im Gras, nascht Beeren und Feigen wie ein Vagabund. Die Freiheit, die in der Einfachheit liegt, ohne technische Beeinflussung. Die Klarheit, was zu tun ist, es geht weiter voran. Immer weiter. Schritt um Schritt. Der Atlantik wartet.

Die Wortkargheit der Bewohner, denen er am Wegesrand begegnet, die Rufe der Käuze, die ihn Nachts in den Schlaf begleiten, er ist allein und doch auch wieder nicht. Trifft auf alte Freunde und Weggefährten, die ihm entgegenkommen.

Seine Gesichtslähmung und die Grimasse, die sein Gesicht geworden ist, verschrecken Kinder und alte Damen empfehlen Gebete. Dieses Unterwegs hat alle Facetten. Die des Frühers und des Heutes. Zwischen Ruinen, von Moos bedeckten Mauern, Efeu und Brombeerranken, wo die Wurzeln von Steineichen Ankor Wat spielen, so gut sie es eben können, verliert er Gewicht. Auf seinem Weg zum Mont Ventoux, lässt so etwas von sich auf der Strecke zurück.

Ist erschöpft und gewinnt auch an Stärke. An körperlicher Kraft und Kondition. Meinen uneingeschränkten Respekt hat er längst, ich kann mich auf das einlassen was er mir von unterwegs erzählt, durch seine Augen sehen. Komme dann mit ihm an, an diesem 28. September, wo er um 14 Uhr sterben will, als ihn ein Epilepsieanfall für dreißig Minuten auf die Bretter schickt. Zum Glück ist ein Freund bei ihm, auf dieser Wiese zur Mittagsrast, der ein Stück seines Weges mit ihm teilen wollte. Die Neurologen entlassen ihn am Folgetag aus dem Krankenhaus und er setzt seinen Weg fort. Seine eigenen Versprechen zu erfüllen, am Meer anzukommen, soll die Medizin für ihn sein.

Diese seine Unbeirrbarkeit, wie er seiner Angst begegnet, bewundere ich und ich wünsche ihm sehr es möge gelingen. Allein mit sich zu sein, sich selbst aushalten zu können, ist nicht einfach. Es auf Tessons Weise zu tun, es mit Aktion zu füllen und mit Entdecken, seinem wunschgemäßen Verschwinden, wie er es nennt, klingt leichter. Er füllt Leerstellen mit Eindrücken und beschreibt sie mit vergleichenden Bildern und Poesie.

Silvain Tesson ist ein sehr genauer Beobachter, zum Glück ist er das. Nicht alles ist golden an seinem Wegesrand, er wird nostalgisch, was er für altmodisch hält und am liebsten abstellen würde, es aber nicht kann. Sein Unfall hat ihn verändert. Das spürt er hier deutlich. Jetzt muss er mit dem wie er heute ist weitermachen. Das macht ihn zornig. Manchmal. Auch das, was er sieht. Er spart dann nicht mit Kritik, auf seinem Weg durch einen entvölkerten Lebensraum, dem schnelles Internet wieder Leben einhauchen soll. 

Das Ziel vor Augen. Dann ist es plötzlich zum Greifen nah. Der Rand des Festlandes. An einem Tag, nach einer weiteren Nacht im Freien. Ist er angekommen. Versöhnt? Vielleicht. Dankbar. Für die gefundenen Zwischenräume. Jedes Land verändert sein Gesicht. Aber es gibt sie noch. Die großartigen, verborgenen Winkel. Wenn wir unseren Mut finden nach ihnen zu suchen …

“Man sollte immer der Einladung von Karten folgen, ihren Versprechen glauben, das Land durchqueren und eine Weile dort stehen bleiben, wo es zu Ende ist, um die
schlechten Kapitel zu schließen.”

Textzitat Sylvain Tesson Auf versunkenen Wegen
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