Anderes kenne ich nicht (Elisa Levi)

Anderes kenne ich nicht. Im Positiven wie im Negativen meint dieser Satz für mich, alles beim Alten, alles wie gewohnt. Da hat jemand noch nicht viel erlebt, ist über die Grenzen seiner Welt noch nicht wirklich hinausgekommen. Das was man kennt aber, damit kennt man sich aus. Man ist in diesem Fall Lea. Neunzehn Jahre alt, sieht aber jünger aus, aufgewachsen in einem Mikrokosmos mit vier Straßen, natürlich einer Kirche, einem Lebensmittelladen und einem Wald, der angrenzt an den Ort. Diesen Wald hat sie nie durchquert, aus Gründen und von ihnen erfahren wir gleich zu Beginn dieser Geschichte einer jungen Literatin aus Spanien …

Anderes kenne ich nicht von Elisa Levi

Treffen sich zwei an einer Bank. Am Waldrand. Ein Mann, wir schätzen ihn auf etwa sechzig. Er sucht nach seinem Hund und Lea. Sie nennt den Mann Señor. Vielleicht ist er ein Fremder. Sie lebt hier im Dorf. Unweit des Waldrandes und kennt sich aus. Sie kennt nichts anderes. Weshalb sie auch zu wissen glaubt wo der Hund ist.

Der Kopf von Leas Schwester, ihrem einzigen Geschwister, ihrer älteren Schwester, ist leer, seit sie bei der Geburt daran gezogen haben. Ihre Mama heißt auch Lea, so wie sie, sie sagen die Große und die Kleine Lea über sie im Dorf. Ihr Vater ist auf den Feldern um den Ort zu Hause. Er kennt nichts anderes. Nur die Arbeit mit dieser Erde.

Lea selbst kann nichts riechen, sie hat gelernt mit der Zeit Gerüche anders wahrzunehmen, hat immerzu dieses Brennen in den Eingeweiden, diesen Druck auf der Brust, weshalb sie auch sprudelnd schnell spricht. Weil alles fortwährend aus ihr rausdrängt. Ihren Gedanken kommt ihr Erzählen kaum hinterher und die vier Straßen in ihrem Dorf sind ihr zu wenig. Der Job im Lebenmittelladen der Mutter, abhängen mit Freunden, sonst ist da nichts, der Kreis um Lea ist eng wie ein Korsett. Wäre da nicht Javier, sie wäre schon fort, aber er kann wahrscheinlich nirgendwo sonst überleben. Catalina, ihre Freundin, kann da nur die Achseln zucken, sie findet es nicht eng hier und mit Marcos Gras ist es doch echt auszuhalten. Wenn sie rauchen ist jeder für sich. In seinem Kopf. Und trotzdem sind sie zusammen. So ist es am Schönsten. Die vier sind “die Jungen” hier im Ort, mit sich und damit allein. Ist so.

Elisa Levi, geboren 1994 in Madrid, studierte Audiovisuelle Kommunikation und Darstellende Kunst in ihrer Heimatstadt und Dramaturgie in London, legt mit Anderes kenne ich nicht ihren zweiten Roman vor. In Spanien ist er auf vielen Büchertischen zu finden, und nach einer landesweiten Berichterstattung gilt sie als eine der neuen literarischen Stimmen des Landes, so kann man es beim Trabanten Verlag nachlesen, wo Anfang September diesen Jahres die deutsche Übersetzung von Kirsten Brandt erschienen ist.

Nur zu gerne wollte ich eine aufstrebende Autorin des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse und ihr Schreiben kennenlernen, selbst Landei und mit dem Dorf mehr verwachsen als mit der Stadt.

Wir hatten dann einen holprigen Start, Frau Levi und ich, ihre Sprache habe ich als leicht spröde empfunden. Kurze Sätze haben da bisweilen harte Kanten. Sie hängen in der Luft, wollen von mir im Kopf beendet werden. Sie fliegen hin und her wie Gedanken, wollen sich nicht fassen lassen. Nicht komplett. Seite um Seite hat es gedauert, einige mehr als ich es gerne habe, ich kam eher schwer rein in diese Geschichte. Hatte ich zuviel erwartet? War es der falsche Zeitpunkt für diesen Roman? Ich verharrte im Text, suchte nach der Wucht, die für mich nur Sätze entfalten können, die man nicht auf die Goldwaage legt. Zunächst wirkte Levis Erzählen auf mich kontrolliert und abwägend. Abwartend. Aber worauf?

Heimat ist Dorf. Dorf ist Heimat. Die, die Herziehen, so wie diese Familie aus Madrid die das Haus von Leas Großmutter gekauft haben wissen nichts. Sie renovieren, verputzen die nackten Steine, übertünchen und ersticken so die Geschichten die in ihnen stecken.

“Ich glaube, Señor, das Ende der Welt ist, wenn man begreift, das die Zeit den Sinn verloren hat, den sie vorher für uns hatte.”

Textzitat Eisa Levi Anderes kenne ich nicht

Hier am Ende der Landkarte glauben sie daran, dass die Welt untergehen wird. Zeichen dafür gibt es genug. Man muss sie nur erkennen. Die Geister der Toten kehren zu uns zurück, manchmal im Traum, manchmal am Tag. Javier kennt das. Lea glaubt ihm.

Da ist es, das Schimmern und Schillern des magischen Realismus! Alles verbindet sich. Fantasie und Realität verschränken die Hände. Wie bei den berühmten Vertretern dieser literarischen Stilrichtung, dem Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder auch bei Haruki Murakami. Dem Schreiben Elisa Levis hat man dieses Etikett ebenfalls angeheftet, eine hohe Latte, die sie da zu überspringen hat. Tatsächlich finden sich dann auch bei ihr ganz sanfte Fäden, die sie auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwebt. Zwischen den Gedanken ihrer Heldin, die wahre Bocksprünge machen. Zunehmend hallt ihre Sprache nach und auch der Inhalt ihrer Sätze.

“Missraten” ein Wort auf einer Hauswand brennt sich ein. Macht seine Bewohner klein. Ein stumm bleibender Zuhörer dient als Projektionsfläche für alles was gesagt werden muss. Auch die übrigen Figuren bleiben im Schatten, interagieren meist nicht frei, treten manchmal vor und wir lernen sie durch die Augen von Lea, Levis Heldin in Rückblenden kennen.

Marco ist eine von ihnen, einer der immer meint Lea weine zu wenig, da kämen alle ihre Probleme her. Der ist verliebt in sie. Catalina, die im Gegensatz zu ihr kein Problem mit dem Weinen hat, da wird auch schon mal der Fußboden nass und Javier, der groß ist und langsam. Der die Ruhe in sich hat, die Lea fehlt und der sie nicht so sehr liebt wie sie ihn. Glaubt sie. Leas Schwester, immer wieder sie, schwerstbehindert und pflegebedürftig. Beansprucht alle Kraft. Alle Zeit. Kostet alle Träume.

Von ihnen erzählt sie. So frei wie man nur einem gegenüber sprechen kann, der einen nicht kennt. An einem Neujahrsmorgen. Am Waldrand. Der die Ränder ihrer Welt abbildet. Ihres Ortes und die Grenzen dessen was sie kennt. Klug und von Sehnen erfüllt harrt sie hier aus, träumt sich fort. 

Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, sagt geradeheraus was ihr in den Sinn kommt, diese Lea. Dann liegt das Gesagte da, vor mir auf den Buchseiten und ich kann schauen wie ich das einordne, wie ich damit verbleiben will. Einfach macht es einem Elisa Levi nicht. Das Bewerten überlässt sie uns Leser:innen. Auch das Umgehen mit der Wucht, die ihre Sätze nach und nach entfalten. Als sie in mir zu arbeiten beginnen. Weil ich nicht glauben will, das es zu diesem Finale ihrer Geschichte keine Alternative gegeben hätte.

Hat sich Levi in Spanien deshalb mit diesem Roman den Durchbruch erschrieben? Wegen der Vielschichtigkeit ihrer Geschichte, die nur vordergründig ein Dorfroman ist? Welchen Nerv hat sie da getroffen, den von Leser:innen, die so sind wie ihre Lea? Die eher abseits der Städte in einem eintönigen Alltag gefangen sind? Spiegelt sie deren Sehnsüchte auf ihrer Suche nach Perspektive(n)? Wer findet sich wieder zwischen Liebe und schuldhaftem Wünschen dem Taten folgen, die man ein Leben lang bereut?

Lea hat eine Geschichte, eine die dort beginnt wo die Welt endet, zwischen unerfüllten Träumen, Giftefeu, Furcht vor einfach allem und Furcht vor rein gar nichts. Am Ende der Welt wartet ein Anfang. Wenn Du gehst.

“Die, die gehen bleiben, Lea.”

Textzitat Elisa Levi Anderes kenne ich nicht

Du weißt das, Lea. Wenn Du mir von Schuld erzählst. Von einer, die Du auf Dich geladen hast. Von einer Schuld und einer Traurigkeit, die wie ein hauchdünner Schleier über allem liegt. Ein Schleier den ein Atemhauch verwehen könnte. Dann würde er sich heben, aber nur um sich danach ganz sanft wieder aufzulegen. Am Ende. Am Ende dieser Geschichte, das mir mein Herz angehalten hat. 

Kritische Stimmen zum Roman merken an, dass hier eine Sicht auf Menschen mit Behinderung dargestellt werde, die nicht angemessen sei. Literatur darf genau das, finde ich, muss das. Uns an diesen Stellen wehtun, wenn Gefühlswelten und Wahrnehmungen gespiegelt werden, die nicht die unseren, aber nunmal in der Welt sind. Dann beginnen wir nachzudenken, immer dann im Diskurs ist auch Veränderung möglich. Lea ist in einem Mikrokosmos aufgewachsen, der sie auch vor Aufklärung und Horizont abgeschirmt hat. Insofern ist sie für mich als Figur sehr glaubwürdig. Liest man den Roman zudem durch die Brille des magischen Realismus ist offen, ob was am Ende geschieht, wirklich geschehen ist …

Mein Dank geht an den Trabanten Verlag für dieses Besprechungsexemplar.

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