An das Wilde glauben (Nastassja Martin)

In der schamanischen Lehre ist der Bär ein machtvolles Krafttier. Er soll Geborgenheit schenken und zum Rückzug mahnen in die innere Stille, um eigene Stärken zu erkennen. Selbst wer nicht an Geisterführer oder Totemtiere glaubt, wird nach dieser Geschichte innehalten so wie ich, beeindruckt von ihrer nüchternen Sachlichkeit, von ihrem kraftvollen Stil, von ihrem inneren Leuchten, wird sich verneigen, vor der Übersetzung von Claudia Kalscheuer:

“Die Steppe ist rot, die Hände sind rot, das geschwollene, zerrissene Gesicht gleicht sich nicht mehr. Wie in den Zeiten des Mythos herrscht die Ununterschiedenheit, ich bin diese undeutliche Form, deren Züge in den offenen Brechen des mit Blut und Sekret verschmierten Gesichts verschwunden sind – es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich kein Tod ist.”

Textzitat Nastassja Martin – An das Wilde glauben

An das Wilde glauben von Nastassja Martin

Ihr Kopf im Maul des Bären. Ihr rechtes Jochbein – gebrochen. Sie konnte nicht atmen. Nicht essen. War aber am Leben. Dazu kommt ein tiefer Biss im Bein. Warum hatte er sie am Leben, warum im entscheidenden Moment von ihr abgelassen? Niemand hatte sich in ihren Kampf eingemischt. Niemand hatte ihn gestört?

Ein Stück ihres Kiefers war im Maul des Bären geblieben und zwei Zähne. Ein Luftröhrenschnitt folgt und ein Schlauch der in ihren Magen führt. Notdürftig hat man sie im Lager zusammengeflickt und nun ist sie hier in diesem russischen Krankenhaus, das mehr wie ein Gulag ist. Man beschallt sie mit Musik in einem bestimmten Rhythmus, damit sie das Atmen nicht vergisst. Operiert sie mehrfach. Verwehrt ihr Schmerzmittel. Verhört sie.

Wer ist diese Frau, die den Angriff eines wütenden Bären überlebt hat, wenn nicht eine französische oder gar amerikanische Spionin? War sie nicht zuvor lange in Alaska gewesen? Warum trieb sie sich alleine an der Flanke eines Militär-Lagers herum?

Eine Verlegung in die Salpêtrière nach Paris. Quarantäne. Hier operiert man sie erneut. Die Platte in ihrem Kiefer ist zu groß, sitzt nicht im richtigen Winkel, alles muss raus und einmal neu. Neben den Schmerzen beginnt ein weiterer ein unsichtbarer Feind ihren Körper zu besiedeln …

Nastassja Martin, geboren 1986 in Grenoble, die Anthropologin und Schriftstellerin ist Spezialistin für arktische Völker. Mit am meisten beeindruckt hat mich die berührende Sachlichkeit mit der sie ihr Erlebtes, teilt und erzählt. Als stünde sie außerhalb ihrer selbst um sich wie von oben zu betrachten. Als gulagähnlich beschreibt sie das russische Krankenhaus in das man sie kurz nach ihrem Unfall verlegt hatte. Ich würde am liebsten mit ihr weinen. Erlebe mit ihr wie sie zu öffentlichen Person wird, wie sich Psychologen an ihr ausprobieren. Bewundere sie und ihre Haltung, ihren Mut. Keinerlei Zorn scheint sie zu empfinden, auf das Raubtier, das sie beinahe umgebracht hat. Ganz im Gegenteil. Vielleicht liegt ja genau auch in dem “Beinahe” der Schlüssel?

“Sei still. Sei du. Stell dich tot. Warum nicht. Wenn man aus seiner Asche wiedergeboren wird, ist alles erlaubt.”

Textzitat Nastassja Martin An das Wilde glauben

Unterwegs auf der von Vulkanstümpfen durchzogenen russischen Halbinsel Kamtschatka studierte Martin Leben und Bräuche der Ewenen. Auf einer Bergtour begegnete sie einem Bären, der sie lebensgefährlich verletzte, aber am Leben ließ. Halb und auch ganz. Dieser letzte, dieser alles entscheidende Moment, der über ihr Leben und ihren Tod entschied beschäftigte auch mich noch lange nach dem Lesen. Ihr langer, qualvoller Genesungsweg hat mich tief bewegt und ihre Verbundenheit mit der Natur, mit allem was Leben in sich trägt und der Seele der Dinge hat mich berührt. Kein Wunder, dass ihre Erzählung in Frankreich nach Erscheinen großes Aufsehen erregt hat. Sie stellt uns und unsere Haltung zur Natur, und auch die zu uns fremden Lebensweisen in Frage und auf die Probe.

Wir reden viel über “die Umwelt” dieser Tage, aber nie oder selten über Verzicht, den es fraglos braucht, wollen wir die Schöpfung erhalten. Wie oft schon wurde der Respekt vor indigenen Völkern beiseite geschoben wenn es um den Gewinn von Bodenschätzen ging? 

Dabei ist die Geschichte von Nastassja Martin zu keiner Zeit anklagend, nie weinerlich und auch nicht esoterisch, aber sie ist zutiefst in dem Glauben verhaftet was uns als  Menschen ausmacht. Sie ist philosophisch und schonungslos und zeigt uns als moderne Gesellschaft in einem Licht, dass uns nicht gerade strahlen lässt. Hat sie recht? Steuern wir geradewegs auf den Abgrund zu? Haben wir die Bindung zu unseren Wurzeln verloren? Haben wir verlernt auf unsere inneren Stimmen zu hören? Unterschiede zu respektieren und anzuerkennen, dass sie uns reicher machen, nicht ärmer?

Martins Erzählung ist animistisch und gründet auf dem was viele Indigene noch glauben, daran dass alle lebenden Wesen und auch unbelebte Objekte eine Seele besitzen. Seelen können sich verbinden, eine Verwandtschaft eingehen, sie und ihr Bär haben das offenbar getan und um wieder heil zu werden, muss sie zurück in den Wald, hält sie sich an den Bergen fest.

Knapp ein Jahr später ist sie zurück in Kamtschatka. Zurück in einer Welt, in der es noch geschlossene Städte gibt, zu denen russische Zivilisten und ausländische Besucher keinen Zutritt haben. Die Frau, die mit dem Bären kämpfte, die ihm entgegenging, die es nie in der Stadt aushielt, die die Stille sucht, die Nacht und die Sterne. Die so poetisch darüber zu schreiben vermag was ihr und in ihr passiert ist, die in Claudia Kalscheuer eine Übersetzerin gefunden hat, die ihren Text so unfassbar behutsam und empathisch aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat. Ich fühle mit ihr, bin zutiefst aufgewühlt. Wünsche ihr, dass sie ankommen möge. Dort, wo immer dort für sie ist und bei sich.

Nach ihrer Rückkehr zu Eiseskälte und Einfachheit. Nach ihrem Kampf mit mehr als einer ärztlichen Meinung, gegen Infektionen, Schmerzen und innere Feinde, ihre innere Unabgeschlossenheit, mit ihren Vorahnungen. So schrieb Martin bereits 2014, knapp zwei Jahre vor dem Unfall, während einer Feldforschung in ihr schwarzes Notizheft:

"Am Tag vor dem Übergang in ein anderes Jahr ein anderes Leben ein anderes Ich in das andere überhaupt
Zittere ich vor Angst
Der Schatten ist dicht die Nacht blendet mich
Gefangen in meinem reglosen Körper das Knie in die Erde gestemmt den Kopf zum Boden geneigt
Warte ich
Dass das Tier im Inneren sich aufrichtet und die Oberhand gewinnt
Dass es seine Macht ergreift ...

Etwas geschieht
Etwas kommt
Etwas stürzt auf mich nieder
Ich habe keine Angst."

In diesem Jahr hat mich nur eine Geschichte, so beeindruckt wie diese. So mitfühlen lassen. Das war Naja Maria Aidts “Carls Buch”, ebenfalls eine autobiographische Erzählung. Beide unterscheiden sich in ihrer Stilistik, sind in ihrer Unterschiedlichkeit beide sprachlich wunderschön. Gemeinsam haben sie diese schonungslose Offenheit Innerstes nach außen zu kehren, die mich sprachlos gemacht hat. Beide Autorinnen in mir etwas zum Klingen gebracht. Einen Ton angeschlagen, der lange nach dem Lesen noch nachhallt.

Das diese Geschichte, deren Seiten beim Lesen mehr zu werden scheinen, so gut in die Vorweihnachtszeit passt, hatte ich nicht erwartet, als ich sie von meinem Stapel genommen habe. Wieviel Kraft sie hat, wie viel Nähe, wie viel inneren Zwist, soviel Nachdenklichkeit, so viele Sätze, die man mit Gold aufwiegen kann. Vielleicht hatte sie ja auf mich und auf genau jetzt gewartet. Um mich jetzt zu finden, mir Mut zu machen, auf der Schwelle zu einem neuen Jahr. In einem Winter, der noch mehr Ungewissheit in sich birgt, als der letztjährige, der auch schon pandemisch gewesen ist. Es wird wieder hellere Tage geben. Daran will ich gern glauben und an das Wilde. Daran auch …

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