All die ungesagten Dinge (Tracey Lien)

Cabramatta, auch Little Saigon, dreißig Kilometer südwestlich von Sydney/Australien gelegen wurde 1980 zum Zentrum für hauptsächlich vietnamesische Einwanderer. Mitte der 1990ziger Jahre waren die Probleme hier zahlreich. Der Handel mit Heroin hatte Hochkonjunktur, eine anti-assiatische Haltung unter den White Australians sorgte für Zündstoff und die aus dem Vietnamkrieg mitgebrachten Traumata vererbten sich auf die nächste Generation.

Die in Vietnam geborene und in Sydney aufgewachsene Autorin Tracey Lien, schöpft für ihren Roman aus vielleicht eigenen Quellen, entführt uns hierher und legt mit All die ungesagten Dinge ihren Debütroman vor. Lien arbeitete nach ihrem Uni-Abschluss in Kansas als Reporterin für die Los Angeles Times, heute lebt und schreibt sie in Brooklyn, New York. Sie punktet durch ihre sehr einfühlsame Art das Schicksal nicht nur einer Einwandererfamilie, sondern das einer ganzen Generation von Vietnamesen zu hinterfragen, die in Australien auf eine sichere Heimat gehofft hatten und die an dem Unaussprechlichen förmlich zu ersticken droht. Ulrike Wasel und Klaus Timmermann haben für sie perfekt ins Deutsche übersetzt:

All die ungesagten Dinge von Tracey Lien

Sie war seine große Schwester, fünf Jahre älter als ihr Bruder. Denny. Noch in Vietnam geboren, nicht wie er in Australien. Die Eltern hatten so viel Hoffnungen in ihnen gesetzt, Arzt sollte er werden und jetzt war er tot. Zu Tode getrampelt, zu Tode geprügelt. In einer Bar und ihnen fehlten die Tränen und die Worte, die Nähe zueinander, um sich gegenseitig zu unterstützen, um auszuhalten, was jetzt auszuhalten war.

Wie es sich anfühlt nicht dazu zu gehören, niemand wusste das besser als sie, von Kindesbeinen an versuchte sie es unermüdlich, schaffte es nicht. Zur Beerdigung des Bruders war sie jetzt nach Hause gekommen, nach Cabramatta, dem Vorort von Sydney, wo gefühlt alle Vietnamesen nach dem Krieg gestrandet waren.

Sie, die Nachwuchsjournalistin, ausgezogen nach Melbourne um erwachsen zu sein. Noch immer war sie genervt von und zerstritten mit ihrer Mutter, schwieg mit ihrem schweigenden Vater, dem Trinker, blieb allein wie er mit ihrer Trauer.

Wie, es gab keine Zeugen? Hitze, glühende Ohren und brennende Scham. Sie war die Übersetzerin für ihre Eltern bis heute, meinte die vietnamesische Community so gut zu kennen, um der Polizei zu helfen, damit endlich jemand redete.

Denny, ihr Bruder, bloß siebzehn Jahre alt, Schüler ohne Fehl und Tadel, wie konnten ihre Eltern eine Obduktion abgelehnt haben? Für die Polizei hingegen passte er ins Profil. Zu viele jugendliche Drogensüchtige gab es hier, die meisten von ihnen hatten Integrationsprobleme.

Plötzlich war er da, der Raum für Zweifel, auch bei der Polizei und für Schuldgefühle. Bei Ky. Der großen Schwester. Hatte sie nicht ihren Eltern zugesprochen ihren Bruder zu dieser verhängnisvollen Abschlussfeier gehen zu lassen? War sie ihm, trotz räumlicher Trennung, noch nah genug gewesen um jetzt helfen zu können? Ein Ermittler lenkt ein …

Buddhistische Riten, Grabreinigungstage, Geister. Wie viel an der eigenen Identität macht die Muttersprache aus? Kys Eltern weigern sich Englisch zu lernen, wer seine Heimat verloren hat, darf nicht noch seine Sprache verlieren, sagt ihr Vater. Ky hingegen hat sogar ihren Akzent abgelegt, wer sie am Telefon hat erkennt nicht, dass sie asiatische Wurzeln hat, ist aber zumeist irritiert wenn er ihr zum ersten Mal gegenübersteht.

Sie ist der Dreh- und der Angelpunkt dieses Romans. Ky, die Schwester des jugendlichen Toten, eine Hauptfigur für die man als Leser:in oder Hörer:in rasch Sympathien entwickelt. Man verliert mit ihr die beste Freundin, in geschickt eingesetzten Rückblenden erfährt man nach und nach was passiert ist. Sie wird zur Ermittlerin wider Willen.

Wir lernen eine Lehrerin von Denny kennen, für die er ein Lieblingsschüler gewesen ist und erwischen sie bei einer Lüge. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Sie tappt in ihre eigene Falle und eine Schulpsychologin versucht ihr da wieder raus zu helfen.

Es geht hoch emotional zu, wenn Lien den Mord an einem Familienmitglied zum Anlass nimmt über den Verlust von Heimat und Identität zu erzählen. Von Erwartungen, Enttäuschungen, Alltagsrassismus und Entfremdung.

Trotz dieser Vielzahl an Themen schafft es die Autorin ihre Geschichte nicht zu überfrachten. Nach und nach öffnet sie ihrer Heldin die Augen, die bislang wie in einer Blase gelebt hat. Dabei hält sie die Spannung. Führt mich seitwärts und zu anderen Figuren. Noch immer schweigen die Zeugen.

Ich mache mir Gedanken über mein Bild, dass ich bislang von Australien, von der Haltung dort lebender Verantwortlicher gegenüber Zuwanderung hatte. Bin nachdenklich. Überall auf der Welt wo Menschen fliehen müssen, um ihr Leben oder ihre Überzeugung zu retten, hat es solche oder ähnliche Schicksale. Verlustängste prallen mit Überlebensängsten zusammen. Kulturen die sich fremd sind aufeinander. Uns Europäer beschäftigt das, was sich an unseren Grenzen abspielt. Das man am anderen Ende der Welt ähnliche Brennpunkte hatte und hat, darauf macht uns diese junge Autorin, mit dem was sie in den Blick genommen hat, aufmerksam und sie steckt einiges zwischen die Zeilen ihres Familiendrama, das vielleicht auch ein Krimi ist. Strikte Genrezuweisungen sind eh nicht so mein Ding, ich freue mich immer, wenn ein Roman mir mehrere Lesarten anbieten und sich nicht so leicht in eine Schublade stecken lässt. Dieser hier ist so einer. Er verzettelt sich nicht, bleibt klar in Botschaft und Aussage, ist inhaltlich relevant und mehr als zeitgemäß, auch wenn er in der jüngeren Vergangenheit spielt. Leider. Muss ich an dieser Stelle konstatieren. Zeigt es doch einmal mehr, dass sich unsere Gesellschaften im Grunde nicht wirklich verändern.

Erwartungen ersticken eine Freundschaft. Eifersucht ist ein starkes Motiv und Worte wie Stacheldraht trennen zwei junge Frauen. Hat man die andere je so gesehen wie sie ist?

Die Abhängigkeit einer toxischen Beziehung, die von Drogen, weil wenn man sich mit beiden Beinen in den Boden und gegen die Konventionen stemmen muss, die die Eltern aus einem Land mitgebracht haben, dass man selbst nicht kennt. Da braucht es Unterstützung.

Kein Weg führt zurück. Von diesem Punkt aus geht es nur noch in die Zukunft. Eine Zukunft beschwert mit Schuldgefühlen, Bedauern und Trauer. Wenn sie sich selbst vergeben könnte wäre es leichter. Aber so ist es nicht.

Getrennte Wege mögen sich wieder kreuzen, gemeinsam auf ihnen weitergehen und die Geister der Toten zurücklassen braucht aber mehr Kraft als wir manchmal haben.

Tracey Liens Kernbotschaften, ihr Plädoyer für Freundschaft, familiären Zusammenhalt, unterschiedliche Lebensentwürfe, das Nachzeichnen der Situation, in der die aus Vietnam Geflohenen in Australien angekommen waren, deren Gefühl der Entwurzelung zu transportieren, ist ihr sehr authentisch gelungen.

Ein paar Abstriche mache ich dort, wo sie mir einen Hauch zu tränendrüsig unterwegs war, auch wenn die Sinnlosigkeit, des von ihr dargestellten Todesfalls Tränen verdient. Die Auflösung, die sie anbietet ist irgendwie vorhersehbar und auch stilistisch entscheidet sie sich für eine eher einfache Sprache, die aber ihre Geschichte gut lesbar macht. Die durchsetzt sie mit buddhistischen Glaubenssätzen, was es nachvollziehbarer macht, warum man, die Eltern insbesondere, auf Dennys Tod so reagiert, wie es hier geschieht, dies angesichts einer Sinnlosigkeit mit der sich Liens Heldin ein Leben lang nicht versöhnen kann. Liens Spannungsbogen hält leider nicht bis zum Schluss, für mich löst sie die Schrauben ein paar Seiten zu früh. Auch ihre Kernhandlung empfand ich als ein wenig zu konstruiert.

Für alle Fans des Vorlesenlassens, es gibt auch eine Hörbuch-Fassung von All die ungesagten Dinge, die gelesen wird von Christiane Marx, Julia Bautz und Oliver Kube. Von mir gibt es diesmal dafür nur eine eingeschränkte Empfehlung. Mit der Stimme und dem Vortrag von Christiane Marx bin ich nur schwer zurecht gekommen. Sie klingt jugendlich und lebendig, passte für mich aber so gar nicht zur Hauptfigur und ihrer Nachdenklichkeit, war bisweilen stimmlich am Rand der Hysterie unterwegs. Da sie den Löwenanteil liest, konnten Bautz und Kube das nicht mehr ausgleichen. Schade. Da wäre mehr möglich gewesen.

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