[Die Einsamkeit ist wie ein Regen. Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen] … Rilke
So beginnt es also diesmal. Im November 2012, am 13. Das war ein Dienstag. Kein Tag wie jeder andere für Anna Cupido, geborene Uelsen. Sie hat sich entschieden. Will ihr Testament machen. Dafür hat sie einen Anlass, wie sie der Notarin sagt. Aber uns Lesenden wird der zunächst nicht verraten. Der Grund. Nur das ihre beiden Kinder, Liewe und Paula sich Jahre zuvor schon entzweit haben, sich nicht sehen, nicht miteinander sprechen wollen. Das sie, Anna, im Fall ihres Ablebens keinen erneuten Streit auslösen will. Das erfahren wir. Der Unfalltod ihres Mannes, auf hoher See, hatte die beiden, Liewe war damals sechzehn gewesen und Paula zwölf, aus ihrer Umlaufbahn katapultiert. Wie auch nicht.
Die Lotsin von Mathijs Deen
2017, die Zeit eilt weiter und wir in der Geschichte mit ihr, das nächste Kapitel führt uns an einem Sonntag im August nach Grönland. Ins Herz des Ice-Core Field Projects. Diese Forschungsstation im Nordosten erinnert an eine Handgranate, als wir sie das erste Mal durch die Augen des Autors sehen. Ich bin angespannt und auch vorfreudig. Grönland. Ein Sehnsuchtsziel für mich.
Forschenden aus aller Welt, erzählen eisige Bohrkerne von zig Jahrtausenden. Konfrontieren sie mit der Weite einer eiskalten Schneewüste, die keinerlei Orientierungspunkte anbietet. Mit Nächten, schwarz wie Tinte oder solchen, die so taghell sind wie viele Wintertage dunkel. Da braucht es Nerven, positive Rituale und die Fähigkeit zu schlafen gleich wie es kommt.
Lotsen. Bei Windstärken jenseits von Gut und Böse, nahe zu bei jedem Wetter, gehen sie längsseits und machen ihren Job. Sie kennen die Tide und jedes Sandkorn am Grund. Lotsen ihre Kunden, zumeist die ganz dicken Pötte, sicher durch Fjorde, Flüsse oder Engstellen. Kurz vor dem Nordkap habe ich einmal im Sturm ein Lotsenboot bei einem Anlegemanöver beobachtet und mein Respekt für diese Zunft war geboren. Gestandene und erfahrene Seeleute begeben sich in ihre Hände. Druck und Verantwortung müssen enorm sein. Besonders bei schwerer See.
Mathijs Deen richtet in seinem aktuellen Roman zunächst unseren Blick auf die Glaziologin Iona, die in der absoluten Stille Grönlands mehr hört als sie aushalten kann. Sie rennt in einem Whiteout aus der Station, wider besseren Wissens und erfriert um ein Haar. Der Camparzt schickt sie nach Hause. Vorzeitig und sie trifft auf dem Weg zurück auf ihren Mann.
Widerstrebend hatte der Kapitän der Anthropocene, zugestimmt, dort war Ionas Mann der Erste Offizier und dessen Frau an Bord genommen. Sie und einen Fotografen, der ebenfalls in Grönland mit ihr auf der Basis gewesen war. Ihr Rückweg führt über Island und ich wundere mich wie Iona und ihr Mann miteinander umgehen. So distanziert, so kühl. Was oder wer steht da unsichtbar zwischen ihnen?
Wieder im Schengenraum, in der Deutschen Bucht, setzt der Kapitän der Anthropocene einen Notruf ab. Er hatte zuvor ein Mann-Über-Bord-Manöver eingeleitet. Vermisst, so gibt er an, wird eine Amerikanierin, eine Forscherin mit Wohnsitz Kiel. Den Ruf nehmen der Seenotrettungskreuzer Helgolands, die Hermann Marwede auf und die Bad Bramstedt, ein Patrouillenschiff der Bundespolizei See. Gemeinsam übernimmt man die Vermisstensuche und startet eine erste Ermittlung, auffällig dabei ist, dass die Anthropocene offenbar sehr lange gezögert hatte bis zu ihrem Mayday …
Die Vermisste bleibt verschwunden und Xander Rimbach, Bundespolizist und Kollege von Liewe Cupido, unternimmt einen Alleingang. Sehr zum Missfallen seines Vorgesetzten. Der ihn kaltstellt.
Dann betritt sie die Bühne Anne Kat. Die Lotsin. Sie soll die Anthropocene, die unbedingt, sofort nach der polizeilichen Freigabe noch im Sturm wieder ablegen will, führen. In einem waghalsigen Manöver wird sie aus einem Helikopter abgeseilt. Das ist nichts für schwache Nerven. Kaum an Bord, bricht sie sich, nachdem der Kapitän ihr unsanft den Weg verstellt, eine Rippe. Ein Zufall? Wem oder was hatte sie nicht begegnen sollen?
Mit nur wenigen Federstrichen zeichnet Deen Anne Kat und ich mag sie sofort. Das und wie geschickt sich hier die Ereignisse fügen, wie Eins zum Andern kommt. Unverstellt und echt fühlt es sich an. Langsam entwickelt sich aus den ersten Romanseiten ein Kriminalfall. Eile ist nicht Deens Sache. Die leisen Töne aber sind es sehr wohl. Die setzt er mit Bravour.
Krume für Krume darf man ab jetzt gemeinsam mit den beiden Ermittlern Cupido und Rimbach auflesen und wieder kommt es anders als man denkt. Ganz klassisch ist das, spannend, mir geht es bei Deen aber fast ein wenig mehr um seine Figuren. Um das was er im Hintergrund stehen lässt und zwischen den Zeilen. Wie seine Buchstaben Schatten werfen, auch lange und das man so gerne in sein Setting zurückkehrt. Band für Band. Wissen will, wie es allen geht. Als kenne man sie seit Jahren persönlich und immer bleibt das letzte Geheimnis noch offen. Auch diesmal.
Mathijs Deen, geboren 1962, niederländischer Autor, ausgezeichnet 2018 mit dem Halewijnpreis für die literarische Qualität seines Werkes, legt mit Die Lotsin Band 4 seiner Krimireihe um Liewe Cupido vor. Für Band 2 Der Taucher erhielt er 2024 den niederländischen Krimi-Preis De Gouden Strop und was soll sich sagen? Für mich wird er immer besser. Von Band zu Band. Dabei war das Krimischreiben gar nicht seine Sache, für seine Romane, Erzählungen war er bekannt. Für seine Feinheit und Lakonie. Der mare-Verlag war es, der ihn gefragt hat, ob er sich nicht vorstellen könne einmal einen Krimi zu schreiben und was hat er da nicht alles rein gepackt? Neben einem klassischen Fall, in dem ermittelt wird, immer den kundigen Bezug zu Meer und Schifffahrt und eine Hauptfigur wie nur er sie sich ausdenken kann. Mit diesem Liewe Cupido würde er sich in jedes Boot setzen, meint der Schauspieler Axel Milberg und ich, ich auch. Er ist eine Figur, die man im echten Leben gerne zum Freund hätte. Integer und verlässlich, wortkarg und verletzlich.
Drum geht mein Dank an das Team vom mare-Verlag für das Anstupsen von Mathijs Deen und für dieses Rezensionsexemplar. Auch diesmal hat Andreas Ecke aus dem Niederländischen übersetzt und ich feiere es sehr, dass bei mare der Übersetzende mit auf dem Cover genannt wird. Sollte Schule machen, wir verdanken diesem Handwerk, diesen Wortkünstlern so viel! Ecke gehört fraglos dazu, ausgezeichnet mit dem Europäischen Übersetzerpreis und dem Else-Otten-Übersetzerpreis ist er bei mare von Beginn an die deutsche Wortstimme Deens.
Der Grönlandeisschild und das Verschwinden des Kabeljaus. Nächtliche Geheimtreffen. An Deck. Eine alte, eine offene Rechnung. Ein Stigma und verletzte Eitelkeit. Walfänger, Bartperlen und eine beschädigte Harpunenspitze.
Es brennt kein Licht mehr im Haus am Deich. Eine Uhr wird angehalten, ein Sessel bleibt leer. Die Ausfahrt in Richtung Früher hatte er bereits genommen, schreibt Deen und es sind immer solche Sätze, die kurzen, prägnanten und diese kleinen Gesten, die bei Mathijs Deen nach mir greifen. Diesmal rollt eine Träne, dann eine zweite. Eine Flaschenpost findet Land.
So endet es also, denke ich und könnt’ schon wieder. Den nächsten Fall mit ihm lösen. Oder einfach nur mit Liewe da sitzen, seinen Hund auf meinen Füßen und gemeinsam schweigen.
[Man findet nicht nur das, was da ist, sondern auch was fehlt.] Liewe Cupido



Liebe Dorothee, ich wünsche allerbeste Unterhaltung und bin schon gespannt, wie Dir die Lotsin gefallen wird. LG nach Kiel von Petra
Hallo Petra!
Ich habe das Buch auch schon bestellt und freu mich drauf, nachdem ich den 3. Teil mit ganz großem Interesse erst vor kurzem gelesen habe!
Bis dann – Liebe Grüße- Dorothee