Am Grund des Himmels (Mariette Navarro)

Acht Selbstmorde in nur zehn Tagen erschütterten im Januar 2014 die Finanzwelt. London, Singapur, New York. Managerinnen und Manager, Mitarbeitende renommierter Banken sprangen in den Tod oder erhängten sich. Statistisch gesehen lag in dieser Zeit die Selbstmordrate bei Bankern, Analysten und Associates in den USA um 40% höher als im Rest der Bevölkerung. Druck von innen und außen, Kontrollen und Misstrauen, lange Arbeitstage, die Zwölfstündigen waren dabei noch die Kürzeren. Keine freien Wochenenden und allzeit via Telefon erreichbar sein, das Leben, war dem Job unterzuordnen. So die Anforderung insbesondere an Berufseinsteiger. Wer nicht Stand hielt galt als schwach. Rahmenbedingungen, die sich nur langsam nach diesen Freitoden verbessert haben.

Jede Veränderung beginnt mit einem ersten Schritt. Wie gelingt ein Neustart nach einem inneren Umbruch? Werden alte Gewohnheiten schneller sein als neue Vorhaben? Wie schafft man es bei erstickender Hektik der Anpassung an einen Job zu entkommen, den man wohl gewählt, mit dessen Entwicklung man aber so nicht gerechnet hat und mit denen man nicht, nicht mehr, einverstanden ist?

Was löst diesen einen Moment aus, der uns innehalten und erkennen lässt? Der uns den Mut finden lässt für Aufbruch und Wandel?

“Mein Blick umspannt, was schon immer da war, eine Landschaft, die ich jeden Tag gesehen, aber mir nie die Zeit genommen habe zu betrachten.” Textzitat Mariette Navarro

Am Grund des Himmels von Mariette Navarro

Vom Dach ihres Bürogebäudes aus hat Claire jetzt einen anderen Blick auf die Dinge. Was hat sie sich abgemüht, um beruflich aufzusteigen, ihre Position zu halten, zu verteidigen. Was hat sie nicht alles ausgehalten? Um anerkannt zu werden. Die Hände der Kollegen auf ihrem Hintern und mehr. 

Genug. Genug der Glaubenssätze, die nicht die eigenen sind. Genug der Werte, die man selbst nicht vertreten möchte. Im Grunde genommen noch nie vertreten wollte. Es musste. Um dazu zu gehören. Als Landei auf der Karriereleiter in der Hauptstadt.

Stolz war sie gewesen, es bis hierher geschafft zu haben, nach einem Studium mit Auszeichnung. Die Eltern hatten das kritisch gesehen. Jetzt war sie keine mehr von Ihnen. Sondern eine von Denen. Stolz war sie geblieben. Bis heute. Als sie beschließt weiter aufzusteigen. Dem Gebäude Ihrer Firma wortwörtlich auf’s Dach.

Gleich ob man diese Geschichte und die Flucht von Navarros Heldin, ihre Zeit auf dem Dach, die Zeit danach,  denn die gibt es, als Sinnbild für die Selbstermächtigung einer Frau liest oder sie als echtes Erleben annimmt, es packt einen. Die Wucht dieser Bilder, die Schönheit der Sätze, so oft hätte ich sie am liebsten doppelt unterstrichen.

Wie wir sein sollen, hat wie oft nichts mit dem zu tun, wie wir selbst sein wollen? Wie wir wohl sein könnten, wenn man uns ließe? Aber wer oder was hindern uns? Wie oft setzen wir uns auseinander mit dem was wirklich wollen?

Mariette Navarro, geboren am 4. April 1980, französische Dramaturgin und Autorin, legte 2021 ihren Debütroman vor. Ultramarins titelt er im Original. Für den Verlag Antje Kunstmann übersetzte 2022 Sophie Beese diesen sehr besonderen Roman ins Deutsche mit Über die See.

Auch diesmal ist Beese die deutsche Stimme von Navarros neuestem Roman, der ebenfalls im Verlag Antje Kunstmann erschienen ist. Lieben Dank an dieser Stelle für das Besprechungsexemplar.

Von Beginn an verliebt, das war ich, bin ich, in diese Sprache, in diese wunderbare Übersetzungsarbeit von Sophie Beese. Poetisch, stimmungsvoll, feinfühlig und zart klingen die Gedanken von Navarros Protagonistin in mir. Ich höre sie, spüre sie. Bin bei ihr. Hoch oben. Über den Dächern. Mitten drin. In einer fordernden Arbeitswelt.

Claire sucht nach Abstand, verschafft ihn sich räumlich. Findet ihn in der Höhe. Aber nicht mehr zurück. Zunächst. Ein schwerer Sturm zieht auf und sperrt Claire aus. Verschließt die Dachluke über die sie eingestiegen ist und die sie für den Rückweg angelehnt hatte. Sie kommt nicht vom Dach und die Nacht, die sie hier oben, unter einer Plane in eisiger Kälte verbringt, steckt ihr am Morgen in den Knochen. In ihrem Inneren kreisen die Fragen. Ist ihr bisheriger Lebensentwurf der Richtige? Wenn nein, was dann? Wie sehr folgt sie Anforderungen und Zielen, die nicht die ihren sind? Etwas klärt sich in ihr. Hat sich geklärt. Wie jetzt weiter? Ab diesem Punkt?

“Wer ich bin, wird sich zeigen, wenn ich wieder dorthin zurück muss, wo ich hergekommen bin, zum Lauf der Zeit und den laufenden Geschäften.” Textzitat Mariette Navarro

Idiotische Beharrlichkeit und ein Sprung aus drei Metern Höhe. Eine Landung, ein Aufkommen in einer verlassenen Glaslandschaft, wo nur die Chefs ein Anrecht auf ein Büro haben und in der sonst um diese Zeit längst die Luft erfüllt ist vom Summen verschiedenster Stimmen. Hier, wo man stets von Stühlen in Schach gehalten wird, wo Anonymität eine Grundzutat ist, man dazuzugehören und seinen Beitrag zu leisten hat, sickert jetzt eine unerwartete Stille durch die Wände und dirigiert die überall verstreuten Papiere.

Hatte irgendjemand überhaupt ihr Verschwinden bemerkt? Ihr stummes Aufbegehren?

Ohne jegliche wörtliche Rede kommt Navarro aus, meisterlich gestaltet sie ihren Text mittels innerer Monologe. Das hat mich aus den Socken gehoben. 

Diese Erzählart ist Navarros Stärke, das hat sie mir bereits mit ihrem Text <Über die See> und mit ihrer Kapitänin bewiesen. Hier setzt sie für mich aber nochmals einen drauf. Auch sprachlich. Wunderbar rund und geschliffen, gemessen und gewogen fühlen sich ihre Sätze an. Sie sind ihr angenehm unangestrengt und fließend gelungen. Sie umgarnen mich. Lassen mich aufhorchen. Zuhören und mitfühlen. Manchmal erkenne ich mich in ihnen. Sehe mich gespiegelt. In den Gedanken von Claire. Den Spiegel hält Navarro auch unserer modernen Arbeitswelt vor. Die Frage danach, wer wir darin sind stellt sie laut. Wo unsere Überzeugung Platz finden. Sie bleibt uns eine Antwort allerdings schuldig. Eine universelle wird es wohl auch nicht geben, aber durchaus eine, die jeder für sich beantworten kann und sollte. Denn Arbeitszeit ist auch Lebenszeit.

Lange habe ich gelesen an diesem schmalen Buch und es dafür gefeiert wie viel in ihm steckt. War gespannt wie Claire, wo Claire in ihm endet.

Schwankende Kräne, ein Himmel, vom Wind auseinander gerissen, die Natur zeigt deutlich, wer die Macht hat über das Leben. Wie hilflos und unbedeutend der Mensch mit seinem vermeintlich wohlgeordneten Dasein diesen Gewalten gegenübersteht. Vielleicht auch das eine Methapher in diesem Text, der so viele Lesarten zulässt. Dies auf engstem Raum. Was ein wahrhaftiges Fest ist.

Navarro wechselt die Perspektive, vor dem Sturm, während des Sturms, schwenkt weg von Claire, verallgemeinert den Blick. Es sind wohl ihre Kollegen. Die anderen. Die sie zu Wort kommen lässt. Jetzt ist die Ruhe nach dem Sturm. Das Viertel verwüstet, Wege versperrt. Der Alltag verschwunden. Die E-Mail Postfächer leer. Die Straßen voll mit Trümmern.

Nach dem zweiten Text von Navarro bin ich soweit zu sagen, ich habe eine neue Lieblingsautorin entdeckt. Weil sie es versteht mit wenigen Worten auszudrücken wofür andere Bände brauchen und das WIE sie das tut ist ganz und gar bezaubernd. Sie streichelt meine Leseseele, weckt mein lyrisches Ich und ich mag sie nicht vergleichen. Mit anderen. Weil sie eben schreibt, wie sie schreibt und so soll das sein.

Die letzte Seite ist umgeblättert und mir bleibt jetzt nur das Warten, bis es wieder Neues von ihr geben wird – oder, ich lese vielleicht <Über die See> nochmal. Hinter dem Cover findet sich auch mein Beitrag dazu.

Macht was ihr mögt, steigt auf’s Dach oder stecht in See, aber bitte lernt diese unglaubliche Autorin kennen. Weil sie mit uns übt, wie das geht, sich treu bleiben. 

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