Rosa in Grau (Simone Scharbert)

Entartete Kunst. Irrenkunst. Als solche bezeichnete man seinerzeit die Bilder, die der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn in einer Lehr-Sammlung zusammengetrug um sie im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu erforschen. Um die 6.000 Werke aus der Zeit von 1890 bis 1933, sowie nochmals rund 14.000 Objekte, die nach 1945 entstanden, umfasst diese Sammlung, die heute ein der Uniklinik Heidelberg angeschlossenes Museum beherbergt. Seit 2001 ist die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich, der Erhalt und die Restauration der teils auf fragilen Bildträgern wie Zeitungspapier entstandenen Malarbeiten von Psychatriepatient:innen begann 1980 und wird bis heute fortgesetzt. In die Zeit um 1950 nimmt uns diese Geschichte mit, in eine Zeit und an einen Ort wo mir auch solche Bilder begegnet sind …

Rosa in Grau – Eine Heimsuchung von Simone Scharbert

Rosa saß ihr in der Küche gegenüber, ihr Beine baumelten, noch immer reichten sie nicht bis zum Boden. Simone Scharbert lässt sich ihre namenlos bleibende Hauptfigur fragen wie viele Jahre wohl in die noch fehlenden Zentimeter passen und mein Herz zieht sich bei diesen Sätzen zum ersten Mal zusammen. Aber nicht zum letzten Mal. Dieses innere Ziehen wird mich den kompletten Roman über nicht mehr verlassen. Das weiß ich jetzt. 

Angst. Sie ist da. Oft. Immer. So wie die Scheibe und das Rauschen, das sie von der Welt abschneidet. Immer wieder und unvermittelt. Wut empfindet sie dann auch. Verzweiflung. Ohnmacht. Dazwischen mischen sich klare Momente. Zweifel.

Während ich gehe, hole ich Luft, atme ruhig. Bin mir selbst Begleitung. Beobachte mich genau. Meinen Gang, die Stiefel. Meine Figur, zu dünn. Lotternd. Im großen zu weiten Mantel. Als wäre er ein Versteck. Aber die Stadt findet mich immer wieder, lässt mich nicht bleiben. Spuckt mich aus wie ein zähes Stück Fleisch.

Textzitat Simone Scharbert Rosa in Grau

Ich weiß nichts. Gewissheit war gestern. Während ich diesen Text lese, kommt sie mir abhanden. Wirklichkeit, Wahrnehmung und Gedankenbilder verschwimmen. Wie die Farben eines Aquarells. Durchscheinend an den Rändern und unscharf. Scharberts Spiel mit Begrifflichkeiten, die Wortschöpfungen die sie findet, lassen mich immer wieder inne halten, Passagen mehrfach lesen, ihnen nachhängen.

Simone Scharbert legt dabei Melancholie auf ihre Sätze. Aber keine Schwermut. Der feine Unterschied taucht in jedem Absatz auf. Reißt mich hin. Ihre Hauptfigur rückt näher an mich heran. Sie will nicht dass ich sie bemitleide. Ich fühle mit ihr. Bin bei ihr, wenn sie vermisst. Hofft. Tastet. Nachdem was vergangen ist. Nachdem was SIE von ihr denken. Erwarten. Immer wieder Rosa. Sie hüpft durch ihre Gedanken. Ihr Fühlen und ich beginne mich zu fragen, ist Rosa real? Ist sie ihre kleine Tochter oder ein bloßer Spiegel ihrer Erinnerung an sich selbst? Schizophrenie. Wahnvorstellungen. Diagnostizieren sie bei ihr. Immer wieder schlägt ihr Kopf gegen die Wand.

Hautpartikel auf Putz, die Stirn blutverkrustet, dreimal musste der Maler die Wand überstreichen. Nichts gehört ihr mehr. Nur ihr Schmerz. Der gehört ihr ganz allein.

Immer wieder verletzt sich Scharberts Hauptfigur, versetzt andere damit in Angst und Schrecken. Andere, die versuchen ihr nah zu kommen. Ihr die Hand zu reichen. Mitpatienten, Pflegerinnen. Auch sie verletzt sie. Körperlich. Unabsichtlich. Gegenstände geraten in Bewegung, wenn sie aufbegehrt. Wie von selbst. Die Erinnerung daran geht ihr danach verloren. Wie so vieles …

… und wenn man meint, diese Protagonistin, schaue nur in sich hinein, geht man fehl. Sie beobachtet nicht nur sich genau, fühlt tief, sondern nimmt andere wahr auf eine Art, wie wir das nie könnten. Dafür findet ihre Autorin Worte und andere. Anderes, von dem ich so zusammengesetzt noch nie gelesen habe. Vom Nochdunkel etwa, vom Sich-Ein-Schreiben und doch verstehe ich sofort, oder fühle es eher als ich es gedanklich erfassen kann. Wie kann man so schreiben? Wo nimmt Simone Scharbert all das her?

Simone Scharbert, geboren 1974 in Aichach, hat Politikwissenschaft, Philosophie & Literatur studiert. Sie lebt und arbeitet in Erftstadt, als freie Autorin und Dozentin, erzählt mir diese Geschichte von innen nach außen und ich bewundere sie dafür, wie ihr das gelungen ist. So eindringlich. Sie greift nach mir mit ihren Worten, berührt mich ganz sanft, wühlt mich auf wie ein Sturm die See. Nicht nur an der Oberfläche. Es beginnt mit einem Kräuseln, dann schlagen die Wellen hoch und dieses Wasser, es gründet tief. Ihr Beobachten und Zusammenfassen ist poetisch und sachlich zugleich. Vieles ist angedeutet. Bleibt im Ungefähren und mir überlassen. Das mochte ich neben ihrem Erzählton, ihrem Ausdruck, der eine Wucht hat die mich umwirft. Ihren Lyrikband “Erzähl mir vom Atmen” möchte ich mir jetzt unbedingt noch erlesen. Für ihn wurde sie ausgezeichnet. Ausgezeichnet ist auch dieser Roman, der für mich so gut in den Advent passt, oft richtet sich da der eigene Blick nach innen und zurück, auf das flackernde Licht das Erinnerungen werfen.

Rosa in Grau ist ein Buch das mir weh tut. Es schmerzt bisweilen arg und ist gleichzeitig wunderschön. Von außen wirkt es zart, seine Haptik erinnert mich an Leinen. Der Einband als Softcover wiegt leicht. Dabei könnte sein Inhalt nicht gewichtiger sein. Seine Sprache nicht gewaltiger. Nicht durchdringender. Es wurde mit Zeichnungen illustriert, die wie schattiert neben dem Text liegen. Sie sind hellgrau und durchscheinend. Wie ein Schleier, durch den die Hauptfigur bisweilen wahrnimmt. Der sie trennt. Von sich. Von anderen. Dazu Scharberts Sprache, die es auf den Punkt bringt. Lange habe ich überlegt, wann ich zuletzt so intensive Gefühlswelten einer Figur erlebt habe. Mir ist keine Geschichte eingefallen.

Nichts ist privat hier. Siebzig Frauen in einem Schlafsaal. Ihre Kleidung, die Wäsche grob, aus Leinen und grau.  Alles ist grau. In all seinen Schattierungen. Verwaschen zeigt es, wie lange wer hier schon verwahrt wird. Die Erinnerung an andere Farben verblasst. Die Erinnerungen an das Davor vergeht. Mit jedem Tag ein bisschen mehr.

Scharbert zeichnet Bilder eines Anstaltslebens, das diejenigen durchleben, die aussortiert wurden, die sich nach dem Krieg nicht mehr einfinden konnten. Die Risse bekommen hatten. Zu brechen drohten. Nicht mehr funktionierten. Für Aufbruch und Aufbau. Die nicht mehr durchhielten und nur schwer auszuhalten waren. Oft waren es Frauen. Die man wegsperrte. Zwangseinwies. So wie diese junge Mutter, die Anfang der 1950ziger Jahre in die berüchtigte Anstalt Haar-Eglfing eingeliefert wurde.

Ich google die harten Fakten: Ende 1942 bestimmte das bayrische Innenministerium, das Patienten die keine nutzbringende Arbeitsleistung erbringen konnten, schlechter verpflegt werden sollten. In der Heil-und Pflegeanstalt Haar-Eglfing kontrollierte insbesondere ein Arzt Gewicht und Speiseplan der Patienten in zwei “Hungerhäusern” und half mittels Schlafmittelgaben nach, wenn der Tod trotz des Versuchs des schleichenden Verhungerns auf sich warten ließ.

“Tage. Monate. Ein Jahr. Jahre.
Jemand spricht manchmal von der Zeit, dass sie vergeht.
Nicht vergeht.
Ich zähle nichts mehr,
zähle nicht dazu, zähle nichts ab.
Stecke in einem Spalt,
In einem Zwischen.
Den Mantel, das weite Land habe ich verloren.
Vielleicht abgegeben. Ich weiß nicht mehr.
Was bleibt. Hier nicht ausgespuckt wird: Mein Ich. Ein zähes Stück Fleisch.”

Textzitat Simone Scharbert Rosa in Grau

Mich hat dieser Text, seine Hintergründe, extrem angefasst. Auch zu erlesen, wie Kreativität Türen öffnen kann, die Ausweg sind. Weil es in Bildern gelingen kann Gefühle auszudrücken für die Worte und Sprache fehlen, die es schaffen Quälendes für andere sichtbar zu machen. Die Betroffenen ermöglichen, das sie ein Stück weit abrücken können. Von dem was belastet. Vielleicht.

Nach Hause. Wo ist das? Dort wo die Meinung anderer wohnt. Die Scham. Nimmt man mit. Sie bleibt. Ist eine Klette. Scheitern. Wieder hier sein. Dort. Wo die Zeit sich dehnt. Das Warten erneut beginnt. Versuche, die SIE Anwendungen nennen, verursachen Leerstellen.

Leerstellen. Um sie geht es auch in Scharberts Nachwort. In dem sie auf die Quellen verweist, die sie genutzt hat. Die sie mit sprachlichem Funkeln und dramaturgischem Geschick bindet. Eine Sprache, die mich trifft,  wenn sie schreibt, “Jeder Mensch hat das Recht auf Erinnerung” und ich erlese, wie man mit diesem Recht umgegangen ist, in einer Zeit die vom Nazionalsozialismus in Deutschland geprägt war und noch lange danach. Wie sie all das zu einer Geschichte webt, die mich nicht loslassen will. Die ich nicht loslassen will. Noch nicht. Nicht mehr. Denn Geschichten, die so erzählt sind, begegnen einem nur wenige in einem Leseleben.

Mein Dank geht an den Verlag Voland & Quist für das Besprechungsexemplar, wo dieser Titel in der EditionAzur erschienen ist und für den ich von Herzen eine Lesempfehlung ausspreche!

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