50 (Hideo Yokoyama)

Die Tatsache, das ausgerechnet ein Polizist ein Leben genommen hat, stellt alles in den Schatten. Ein aktueller Fall aus den USA erschüttert gerade die Welt. Es kommt zu Massen-Demonstrationen, lange aufgestauter Zorn entlädt sich. Wir, ich verbinde eines mit unserer Polizei: Schutz, nicht Angriff. Hilfe und Unterstützung bei der Sicherung von Ordnung und Demokratie. Groß ist die Verantwortung aller die Uniform tragen, mit besonders kritischem Blick schauen wir auf sie, hören wir auf ihre Äußerungen, das nicht erst seit dem Fall George Floyd und nicht nur in den USA …

50 von Hideo Yokoyama

In der Präfektur W, in der japanischen Provinz überschlugen sich die Ereignisse. Man war länger schon einem Serien-Vergewaltiger auf der Spur und Kriminalkommissar Shiki war so kurz davor ihn auch zu schnappen, da erreichte ihn ein Anruf, der ihn aus voller Fahrt abbremste. Nein, es sei kein Zweifel möglich, entgegnete der Anrufer auf Nachfrage. Soeben habe sich ein Kollege gestellt. Ausbilder und Polizist Kaji. Er gebe an, er habe seine Frau umgebracht. Was ganz und gar undenkbar schien. War Kaji doch allen als umsichtiger Lehrer an der Polizeischule, als respektvoll und sanftmütig, als ausgesucht höflich und als ein begabter Kalligraph ein Begriff. Die Ruhe und Umsicht in Person war er. 

Was macht einen Menschen zum Mörder? Lässt ihn töten? Und zwar nicht irgendwen, sondern den, den er liebt? Vielleicht sogar mehr als sich selbst. Hass ist ein starkes Gefühl. Triebfeder, Motor, aber die Liebe, die Leidenschaft das häufigere Motiv …

Hideo Yokoyama, geboren 1957 in Tokio, arbeitete nach Verlagsangaben als investigativer Journalist und gilt als der japanische Stieg Larsson. Für seinen Kriminalroman “64” erhielt er 2019 den Deutschen Krimipreis, er machte ihn bei uns bekannt. Der japanische Stieg Larsson? Ich habe seine Millenium-Trilogie förmlich inhaliert. Werde Lisbeth Salander wohl nie vergessen. Ich war also mehr als gespannt auf die in Aussicht gestellte Kombination von Larssons Stil mit dem Schauplatz Japan.

Sprachlich klar und schnörkellos. Yokoyama kommt ohne blumige Vorreden aus. Bringt die Dinge auf den Punkt. Lässt einen wehrhaften Staatsanwalt und einen integeren Ermittler regelmäßig rekapitulieren. Das erleichtert es, im Hörbuch zu folgen und es ermöglicht den Fall von allen Seiten zu betrachten und zu durchdenken. Denn nichts ist hier so einfach wie es den Anschein hat, und das auf der Hand liegt, warum ein Mann beschlossen hat seine Frau zu töten ist nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges. Noch ist das Wasser auf dem er treibt an der Oberfläche glatt wie ein Spiegel, aber in der Tiefe brodelt es schon und die ersten Blasen beginnen mit dem Aufstieg …

Ein gefälschtes Geständnisprotokoll. Wem nutzt es? Ein Staatsanwalt hat Zweifel, geht methodisch vor. Die Grundmotivation dieses Täters will er knacken. Rätsel gibt er ihnen auf. Beschämt sie und ihren Berufsstand.

Und dennoch scheint die Organisation hinter ihm zu stehen. Feinsinnig ist Ermittler Shiki, mit ausgeprägtem Sinn für Gerechtigkeit. Seine Intuition sagt ihm da stimmt was nicht … Das schildert Yokoyama sehr klassisch. Er lässt seine Leser und Hörer grübeln und Puzzleteile zusammenfügen. Ich folge der Spur zum Shikansen nach Tokio. Bin aber offenbar doch auf der falschen Fährte. Der dem ich folgte ist nicht in den Schnellzug eingestiegen. Wo ist er hin? Was treibt ihn um?

Ein Täter für den man Sympathien hat? Das ist nicht nur für mich ein hartes Brot. Wem steht es zu ein Leben zu nehmen? Verdient man keine Strafe wenn die Motive die richtigen sind? Was sind Motive die man zulässt? Die, die eigene Überzeugung ins Wanken bringen? Die Fragen, die Yokoyama aufwirft sausen in meinem Kopf hin und her. Mir gefällt was ich da höre, hier steckt viel mehr drin, als nur ein profaner Kriminalfall. 

Im Gefängnis nur noch eine Nummer sein. Der Mensch hinter der Nummer verblasst. Es hat reichlich japanische Lebensart, mir werden Einblicke in den Polizeialltag gewährt, in Hierarchien. Ich erfahre von Gehorsam, Disziplin und der Tatsache, dass man Kollegen nicht beschämen darf. Auch dann nicht, wenn sie fälschen und betrügen. Ich setze mich gedanklich mit dem auseinander was Täter und Ermittler im Inneren antreiben. Jeder hat seine eigenen Gespenster vor denen er sich am liebsten verstecken würde. Geht aber nicht. Sie sehen einen. Sie finden einen. Immer. 

Der eine trinkt Pestizide um seiner Strafe zu entgehen, der andere liefert sich freiwillig aus. Zwei Fälle überschatten und überlagern einander. Beides Mordfälle. Das eigentlich unfassbare aber ist, das alle die mit Herrn Kaji in Berührung kommen, auf seiner Seite zu sein scheinen. Die Grenzen zwischen richtig und falsch verschwimmen. Meisterlich werden sie von Hideo Yokoyama verwischt und auch ich habe mich mehr als einmal gefragt, wo ich stehe. Ob der Zweck wirklich die Mittel heiligt und als Rechtfertigung für diese Tat dienen darf.

Ein Herr Nakao von der Presse schaltet sich dazu. Auch ihm ist zu Ohren gekommen, dass es hier zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft offenbar knistert und er wittert eine Story. Von Fälschung ist die Rede, wenn es um das Geständnis des Täters geht. Wenn das nichts ist, was seine Leser interessiert. Ausgebootet. Man, die Staatsanwaltschaft hat ihn kalt gestellt, was seinen Chef zum Schäumen bringt, weil plötzlich andere Zeitungen im Rennen um die beste Nachricht die Nase vorn haben. Voran kommt nur der, der Hackordnungen achtet und beachtet …

Yokoyama erzählt mit reichlich Perspektivwechseln. Stellt das System in Frage. Staatsanwalt, Ermittler, Journalist, Anwalt, Vollzugsbeamte und der Richter von Herrn Kaji kommen zu Wort. Jeder wird von diesem Fall auf seine Weise berührt und jede Figur lässt der Autor ihre eigenen Gedankengänge in die Geschichte einbringen. Das macht die Erzählung facettenreich und zögert gekonnt die Auflösung hinaus. Nervenkitzel entsteht.

Welches Menschenbild haben wir uns gemacht? Glauben wir noch an das Gute oder längst nur noch daran, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist? Jede Menge nachdenklicher Töne spielt Yokoyama auf der Krimi-Klaviatur. Das meilenweit entfernt von blutrünstig.

Unaufgeregt geschildert, mit der gebotenen japanischen Zurückhaltung, erleben wir als Leser oder Hörer den Prozeß um Herrn Kaji und alsbald wird klar, es geht um mehr als um die Tat und um diesen Täter. Es geht um das Opfer und um eine Krankheit, die uns durch das Vergessen das Fürchten lehrt. Alzheimer. Was diese Erkrankung nicht nur mit denen macht die an ihr leiden, sondern auch mit Angehörigen und Freunden, die mit erleben müssen, das man sie nicht mehr erkennt. Das Verzweiflung, Wut, Panik und Verleugnung auch zu diesem Krankheitsbild gehören. Das all das ausgehalten werden muss. Was aber, wenn die Kraft dafür fehlt? Ist das dann unmenschlich?

Was ist Freundlichkeit und was wahre Zugewandtheit, wenn man jemanden begleitet, der dabei ist sich selbst zu verlieren. Wie viel verliert man dabei von sich selbst?

Ein Ehepaar steht sich näher als Geschwister und bei diesem Fall brennt mir das Herz. Er schmerzt und ganz besonders, weil er so leise erzählt ist. Weil er auf den großen Auftritt Einzelner verzichtet und doch ist die Bühne für die Handelnden hell erleuchtet. Dieser Krimi ist alles andere als reißerisch und für alle ein Tipp, die japanische Traditionen und Lebensweise, das eher romanhafte an Krimis mögen. 

Erlebt was geschieht in gedeckten Hörfarben, seid im Richterzimmer mit dabei kurz bevor der Urteilshammer fällt, erlebt einen coolen letzten Twist und hört ihm immer ganz genau zu:

Gerhard Garbers, geboren 24.8.1942, deutscher Schauspieler, lebt und arbeitet in Hamburg, ist zu Hause an den großen deutschen Theatern und auch in zahlreichen Spielfilmen, ist mehrfacher Pegasus-Preisträger.

Wie eine respektvolle Verneigung, so fühlt sich sein Vortrag in dieser Hörbuch-Fassung an, die mich 515 Minuten lang bestens unterhalten hat. Als erfahrener Schauspieler gibt er mit seiner wunderbar sonoren Stimme diesem Text Halt. Die inneren Zerwürfnisse der Figuren, ihren Widerstreit bereitet er anschaulich stimmlich für uns auf. Sehr gerne habe ich mich zurück gelehnt und gelauscht, jedes Wort geglaubt und genossen. Er versteht es das Unterschwellige einer jeden Situation gekonnt in Szene zu setzen. Sein sind die Zwischentöne. Ich werde ab jetzt meine Augen und Ohren offen halten, wann und ob es wieder neues im Hörbuch von Ihnen gibt, Herr Garbers! Auf jeden Fall, gleich in welchem Fall aber sehr gerne wieder in einem von Herrn Yokoyama …

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