2001 (Angela Lehner)

Die Generation Y. Die Millennials. Manche sagen, sie sind ein Mythos. Aufgewachsen zwischen Multi-Optionen, dem Internet und mobiler Kommunikation, hat der Lebenslauf der “Ypsiloner” die Gradlinigkeit verloren, hört man. Sie seien mangelnder Planbarkeit wegen zu Meistern der Improvisation geworden, meint man. Viele von ihnen sind sehr gut ausgebildet drängen jetzt in die Führungsetagen, verbleiben in der Suche nach der perfekten Work-Live-Balance, zwischen Sinn und Sicherheit. Soziologen halten sie für “Egotaktiker”, die stets die Vor- und Nachteile für die eigene Person, ihr Wohlbefinden, vor allen wichtigen Lebensentscheidungen abwägen. Geboren sind sie zwischen den frühen 1980zigern und dem Ende der 1990ziger Jahre.

Die Heldin in diesem von mir mit Spannung erwarteten neuen Roman von Angela Lehner heißt Julia und steht 2001, im Handlungsjahr ihrer Geschichte, gerade vor dem Hauptschulabschluss, nicht Hochschulabschluss, sucht dabei nach sich, oder nach dem was aus ihr werden soll, hier in der abseitigen Einöde, als Noch-Ypsiloner …

“Unsere Stadt heißt Tal und das ist alles, was man wissen muss.”

Textzitat Angela Lehner aus 2001

2001 von Angela Lehner

Die Crew das sind Julia und ihr Bruder Michael, Bene, Andreas, Melli und Tarek. Die Crew ist ihr Rudel. Ihre Schutzgemeinschaft. In der Schule gehören sie mit zum “Restmüll”, zu denen die den Anschluss, nicht nur an das Lernen verloren haben und manchmal fühlen sie sich selbst so. Wertlos. Dann z.b. wenn die alte Frau Lackner geringschätzig “Klumpert”, über sie sagt, weswegen sie jetzt einen “tag” am Haus (okay, einen mit Rechtschreibfehler, schon gut, man schreibt “seed” nicht mit “t”) und einen verwüsten Vorgarten hat. Ihr Briefkasten will auch einfach nicht mehr stehen bleiben. Im Sommer geht es ab für die Crewmitglieder, ab von der Hauptschule. Aber jetzt ist erst einmal Winter. Januar um genau zu sein.

Bei H&M gehen sie shoppen, vergessen dabei das Zahlen. Wie selbstverständlich. Sie rappen, treffen sich in Kellern, unter einer lecken Felswand, die sie den Wasserfall nennen. Sie halten sich aneinander fest. An ihrer Freundschaft. An ihrer Gemeinschaft.

Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, ist in Osttirol aufgewachsen, sie lebt nach einem Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin. Für ihren Debütroman Vater unser, heimste sie gleich mehrere Literaturpreise ein, u.a. den Österreichischen Buchpreis 2019 für das beste Debüt.

Nicht nur manchmal denke ich, sie schreibt so wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Unverblümt, kein Blatt vor den Mund nehmend. Fand ich erfrischend, ganz ehrlich. Über die Trostlosigkeit und Perspektivlosigkeit, die für die jungen Leute in ihrem 2001 in diesem abgelegenen Teil der Welt herrschen, täuscht sie nicht hinweg, sie öffnet unseren Blick dafür und als Türöffner wirken, wie ich finde ihre Sprache und die Empathie, die sie für ihre Figuren hat.

“Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist. Denn wenn die Zukunft mir gehört, warum tatschen dann ständig alle anderen mit ihrem Griffeln darauf herum?”

Textzitat 2001 Angela Lehner

<Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder.> An diese Zeile des Liedermachers Franz Josef Degenhart aus dem Jahr 1965 musste ich denken, da war ich in Lehners Geschichte noch nicht weit gekommen. Unarten, die andere als solche definieren, könnten abfärben. Minderbegabung schreibt man denen zu, denen es nicht vergönnt ist einem Elternhaus und einem Wohnviertel zu entstammen das der gängigen bürgerlichen Norm entspricht. Je kleiner die Stadt desto … Ja, was? Desto kleinkarierter die Bewohner? Desto spießiger die Ansichten? Wir denken in ganz schön vielen Schubladen. Zeit eine Revolution auszurufen. Diese Laden zu öffnen und aufzuräumen mit Vorurteilen, da kommt Lehner mir mit ihrem Roman gerade recht.

Wenn ich eines mag, dann ist das Lehners Sound. Rotzfrech ist der irgendwie, auf den Punkt und extremst kurzweilig. Mit den Augen zwinkern ist nicht ihr’s, sie klotzt und kleckert nicht, wenn es darum geht, Dinge beim Namen zu nennen. Dieser kunterbunte Mix in 2001 aus Songtextfragmenten jener Zeit, dem Sehnen und Träumen ihrer Figuren ist ihr arg gut geraten.

Mit ihrem “Vater unser” hatte sie mich schon eiskalt erwischt, mit 2001 hat sie mich übelst gut unterhalten, auf eine Zeitreise in eine noch junge Vergangenheit mitgenommen, und Ausdrücke hat sie drauf, “da legst di nieder“, unverblümt, pointiert und originell. Einige davon konnte ich nicht sofort einordnen. Tschicks heißen hier die Zigaretten, jugendsprachlich und in der österreichischen Dialektik sind viele Begriffe beheimatet, Stolperer die mich sinnieren lassen, die den den Text authentisch und zum Anfassen griffig machen. Konsequent finde ich, dass 2001 ganz und gar anders ist als Lehners Erstling und was sie sich sprachlich dabei herausnimmt ist einfach grandios.

Coming-of-age Geschichten und ich das ist so eine Sache, meist beginnen Sie mich irgendwann zu nerven. Diese hier hat mir durchgängig gut gefallen, vor allem ihrer erfrischenden Unverschämtheit wegen. Ihr Schluss ist so furios wie konsequent und passt wie die Faust auf das sprichwörtliche Auge. Gewalt ist keine Lösung, Fäuste regnet es hier aber trotzdem und wer wissen will warum, der lese diesen coolen Text. 

In dem das Gegenteil von gut gut gemeint ist, ein Lehrer-Schüler-Experiment eskaliert und die Julia dann auch noch eine Brille braucht. Mit der sieht sie dann plötzlich nicht nur die Risse im Holz, sondern auch klar. Mehr verrat ich nicht, sonst nimmt es Euch die Freud’ und das wär schad’.

Viele der Romanszenen spielen in Julias Klassenzimmer und ich sitze mit ihr auf der Schulbank, lausche Referaten, bin Zeuge von Kämpfen die Antiheldin und Nicht-Musterschülerin Julia mit ihrem Lehrer Herrn Brandstätter ausficht. Muss mit ihr erfahren was falsche und echte Freunde sind. Habe Angst. Angst zu versagen. Vermisse. Verzage.

Der Zeitgeist spielt dabei bei Lehner seine Rolle wie ein Protagonist aus Fleisch und Blut.
Von Januar bis September begleite ich ihre Julia Hofer und frage mich permanent wo sind ihre Eltern? Wo ist der Halt den sie braucht? Der Rahmen der ihr fehlt, der sie finden lässt was sie sucht. Sich und das was sie will.

Aus dem Winter wird ein Sommer, ein Herbst. Alle Träume zerplatzt? Alle Hoffnung dahin? Immer wieder blitzt das Weltgeschehen in Julias Augenwinkeln auf und der Roman endet mit den Fernsehbildern eines Attentats, die wir alle noch auf der Netzhaut haben und die wir so wie Julia nie wieder vergessen werden, denn von jetzt an wird die Welt nicht mehr dieselbe sein. In New York brennen zwei Hochhaustürme.

“Die Schule ist vorbei. Jedes Unglück ist passiert und meine Welt zum Stillstand gekommen. Hier ist sie also: meine Zukunft.”

Textzitat Angela Lehner 2001

Mein Dank geht an den Hanser Literaturverlag für dieses Rezenzionsexemplar und an Frau Lehner. Ich freu mich schon auf den nächsten Streich. Ganz arg!

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