“Ein Dorf der Galgengesichter und Ausgestoßenen. Oakham: Bestiendorf, Schweinshausen, Keinbrück. Das Dorf, aus dem nichts wurde, das einzige Dorf im Umkreis von hundert Meilen, das nicht mit Wolle handelte und keine Kleidung herstellte. Nicht einmal eine Brücke brachten wir zustande.”
Textzitat Samantha Harvey Westwind
Der Herbst treibt die ersten welken Blätter durch die Straßen. Ich schlage meinen Mantelkragen hoch und ziehe den Kopf ein. Mich friert und mir ist gleich aus welcher Richtung der Wind mich nach Hause weht, denn er ist kalt und er zerrt an meiner Kleidung und ich will ins Warme. Wenn er aus West kommt haben wir vielleicht eine Chance, eine Chance auf besseres Wetter, aber Obacht so manches Mal dreht er und dann, ja dann …
Westwind von Samantha Harvey
Es war auf den Tag genau, Fastnachtsdienstag, der 17. Februar 1491 und nein, Newman war nicht so ein Mensch, der einfach so in einen Fluss fiel und ertrank. Drei Tage lang hatten sie ihn vermisst und heute morgen hatte Herry Carter aufgelöst den Priester aus seinem Beichtstuhl geklopft. Einen Mann wollte er im Fluss treiben gesehen haben, die letzte Ölung musste er erhalten, zwingend und dringend mussten sie ihn herausfischen, jetzt.
Keinen Mann fanden sie, nur ein grünes, ein gutes Hemd, das fraglos zu einem im Ort gehörte, zu Thomas Newman und einen toten Hund fanden sie auch, im Gebüsch auf dem Rückweg …
“Der Tod selbst ist der Mörder, und die Geburt ist seine Komplizin. Menschen sterben, weil sie zum Sterben geboren sind. Durch Ertrinken, durch Krankheit, durch Missgeschick, die Meuchelmörder des Herrn.”
Textzitat Samantha Harvey Westwind
Der Westwind hatte ihm das Leben gerettet, ihm und auch seiner Mutter. Ein staubtrockner, heißer Sommer mit einer riesigen gelben Sonne hatte erst alles in und um ihren Ort verdorren lassen und dann, war erst der Rauch und dann das Feuer gekommen. Es hatte den Ort eingekesselt. Flammen schlugen aus dem nahegelegenen Wald. Seine Mutter hatte mit ihm in den Wehen gelegen und er hatte es ihr schwer gemacht. Nacheinander hatten sie die Mutter verlassen, alle. Sogar der Vater, um zu retten was noch zu retten war. Für sie konnten sie nur noch beten. Und dann? Dann war er plötzlich da. Der Westwind. Er löste den Ostwind ab, der die Flammen auf ihr Haus und auf den Ort zu getrieben hatte und er ließ John Reve und seine Mutter überleben. Ein Wunder war das. Denn nur bei der biblischen Heuschrecken-Plage hatte der Herr zuletzt den Westwind geschickt und Moses war mit gespreizten Fingern sein Werkzeug gewesen, so der Pfarrer ihres Ortes, wahrscheinlich war deshalb der kleine John auch später selbst Priester geworden …
Samantha Harvey, lebt und arbeitet in Bath, England. Westwind ist ihr vierter Roman. Für ihre Vorgänger konnte sie schon Lob einsammeln und war u.a. für den Man Booker Prize, den Orange Prize und den Guardian First Book nominiert. Mit Westwind gewann sie den Staunch Book Prize für Spannungsliteratur. Übersetzt hat für sie Steffen Jakobs, der ihre Sätzen gekonnt eine wohltönende deutsche Melodie gibt. Schön erzählt ist sie diese Geschichte. Manchmal erinnert mich Harvey an Agatha Christie, dann wieder an Susan Hill, weil sie so eine geheimnisvoll schöne Grundstimmung unter ihren Text gelegt hat. Sie arbeitet viel mit Metaphern, die sie immer passgenau in ihre Sätze einfügt und die sie nie überladen. So wirkt er wie eine gute Komposition stimmungsvoll und stimmig.
Ein Mann ertrinkt, und für die Bewohner eines kleinen Ortes am Rande von Nichts und Nirgendwo, stellt sich die Schuldfrage. Ein Mann wie Thomas Newman ertrank nicht einfach mal eben so. Mord oder Totschlag? Unfall oder Selbstmord? Ein Priester war hier gleichzeitig Geistlicher, Sheriff und Richter. Das musste er nicht wollen, das war so. An diesem Ort, dem der Fluss sein Ende gesetzt hatte und so wurde Reverend John Reve Ermittler wider willen.
“Ich mag keine Merkwürdigkeiten; ich mag es, wenn das Leben normal und vernünftig abläuft, wenn die dunklen Dinge, die am Rande unserer Wahrnehmung leben, dort auch bleiben. Aber die dunklen Dinge kommen. Manche scheinen zunächst nicht einmal dunkel zu sein, sondern vor trügerischer Freude zu leuchten.”
Textzitat Samantha Harvey Westwind
Reve hatte für Westwind gebetet. Aber stattdessen rüttelte der Ostwind an seiner Kirchentür und spie im die Order seines Dekans vor die Füße. Die Beichte hatte zwei Geständige und einen Verdächtigen ergeben und er sollte jetzt entscheiden. Wer an einen Pfahl gefesselt brennen sollte, für den Mord an Thomas Newman …
Um vier Tage der Geschehnisse in Oakham macht die Geschichte eine Klammer und sie wird mit dem Faschingsdienstag beginnend rückwärts erzählt. Als Erzähler agiert der örtliche Priester, er ist die zentrale Figur dieses Romans, der einen sehr eigenen Blick auf die Dinge hat und mit seinen “Chefs”, also den weltlichen meist nicht übereinstimmt, so kann er seinen Dekan im Grunde nicht leiden, was der Geschichte für mich einen leichten “Pater Brown” Touch verleiht.
Ruckzuck hat Harvey es geschafft mich komplett zu vereinnahmen. Mit nur wenigen, ihrer überaus schönen Sätze, durchnässt sie mich, wie ihre Helden bis auf die Haut, ich bibbere und suche mit Hochwürden in seiner Kirche ein warmes Plätzchen.
Hier wird das Dorf gefegt zur Fastenzeit, bis der Staub wie Rauch über den Straßen steht. Die Hunde folgen hechelnd den Besen und gleich wird der Priester gewogen, so will es der Brauch.
Ein Flüstern im Beichtstuhl und ein Geständnis, ein falsches? Was wahr ist muss wahr bleiben, aber wie erkennt man sie? Die EINE Wahrheit?
Techtelmechtel und Liebschaften die, wer weiß, vielleicht sogar verhängnisvoll sind. Ein Priester als Ich-Erzähler und sein Blick, sein Glaube, sein fester Wunsch und Wille, seine Schäfchen zu schützen durchdringen diese atmosphärisch dichte Erzählung Satz für Satz. Westwind ist Herbst pur, reichlich post its ragen nach meiner Lektüre aus dem Seitenschnitt heraus, was ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass er mir sprachlich gefallen hat. Sein Erzählton ist flüsternd eindringlich und mit der Zeit in der die Geschichte spielt untrennbar verwoben.
Jede Sünde ist vergeben wenn man sie denn beichtet. Der Ablaßhandel blüht in Oakham und trotzdem kommt man der Wahrheit nur mit Tippelschritten näher, während es unaufhörlich regnet und der Wind pfeift. Raffiniert ist die Idee, wie Harvey ihre Geschichte zunächst vorwärts erzählt und dann von rückwärts aufrollt, während die Wahrheiten Purzelbäume schlagen. Weil offenbar jeder hier Schuld sein will. Aber schuld woran? Noch haben wir nur ein Hemd und die Aussage eines einzigen Dorfbewohners der die Leiche von Newman gesehen haben will. Und auch wenn dieses Dorf schwer erreichbar, wie am Rande der Welt liegt, und ein Bewohner vermisst wird, kann das doch auch noch einen anderen Grund und eine andere Ursache haben, nicht? Ich rätsele, während mich Pfarrer Reve immer weiter in das Dorfgeschehen verstrickt.
Kann eine Gans der Stein des Anstoßes sein? Sie kann offenbar. Dann, wenn sie ein Geschenk ist zu Beginn der Fastenzeit. Ein Geschenk an einen Geistlichen und wenn das Teilen für den Empfänger keine Option ist und Völlerei ist auch eine Sünde, nicht wahr, John Reve?
Hochwasser und Schuldgefühle, und wem beichtet der, der anderen die Beichte abnimmt? Mord wird mit dem Tode bestraft. Hier und zu dieser Zeit, und die Uhr tickt. Ein Täter muss her, der Dekan ist da nicht zimperlich. Brennen oder hängen, oder köpfen – egal. Gesühnt muss sie werden, diese Untat.
Eine großzügige Spende, eine verzweifelte Frau und ein Mann, der mit seiner Leidenschaft ausgerechnet für Käse auf die Pleite zusteuert. Ein Dekan, der seine Nase einfach in alles steckt, auch in das, was ihn eigentlich nichts angeht und der Respekt den Kirchenoberen gegenüber, dabei sitzt ihr Bischof schon im Knast, lässt es alle klaglos akzeptieren.
Die letzten Seiten blättere ich um und bin gespannt, ob aus diesem Beicht-Marathon am Ende tatsächlich die Wahrheit hervorgehen wird. Die einzige, die wahrhaftige. So viele Seiten lang lockt sie mich schon gekonnt mit ihr, spielt mit mir , meiner Neugier und gängigen Genregrenzen, diese Samantha Harvey … Sehr schön!
“Das Herz zog eine Grenze zwischen Liebe und Furcht, und von seinen ständigen Reisen zwischen diesen beiden Reichen wusste es alles, was es zu wissen gab.“
Textzitat Samantha Harvey Westwind
Mein Dank geht an Politicki & Partner und an den Atrium Verlag für dieses Lese-Exemplar.
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