Was der Fluss erzählt (Diane Setterfield)

Wenn die Nebel ziehen und die Pfützen gefrieren, dann bin ich auf der Suche nach ihnen, nach den geheimnisvollen unter den Geschichten. Nach denen, in denen man sich verwundert die Augen reibt, für die man alle Sinne braucht, und sein Bauchgefühl. Weil hier niemandem zu trauen ist, am wenigsten dem Offensichtlichen … Et voilà:

“An den Grenzen dieser Welt liegen andere Welten. Es gibt Orte, an denen man zu ihnen übersetzen kann. Das hier ist einer davon.” 

Textzitat Diane Setterfield Was der Fluss erzählt

Was der Fluss erzählt von Diane Setterfield

Als die Geschichte beginnt, befinden wir uns in einem Wirtshaus am Oberlauf der Themse, zwischen Cricklade und Oxford, in Radcot, im späten 19. Jahrhundert. 

Zahlreiche Schenken gab es hier zu jener Zeit und in allen von ihnen konnte man sich betrinken, in der einen besser, in der anderen schlechter. Um sich abzugrenzen, um seine Gäste zu finden, bot manch eine von ihnen ein Zusatzangebot. So erzählte man sich im “Swan”, dem ältesten Wirtshaus hier, allabendlich Geschichten an denen man sich wärmen konnte. Margot Bliss, geborene Ockwell, war die Wirtin hier, eine stattliche Frau die zupacken konnte, und ihrem Mann Joe 13  Kinder geschenkt hatte, etliche “Little Margots” und einen Sohn. 

“Wie allgemein bekannt, geraten die Menschen, wenn die Mond Stunden länger werden, aus dem Takt ihrer inneren Uhr. Sie nicken Mittags ein, träumen im Wachen, tun bei pechschwarzer Nacht kein Auge zu. Es ist eine Zeit der Magie und wie die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen, verschwimmen auch die Grenzen zwischen den Welten. Träume und Geschichten vermischen sich mit Erlebtem. Die Toten und die Lebenden laufen sich bei ihrem Kommen und Gehen über den Weg. Vergangenheit und Gegenwart berühren und überschneiden sich. Unerwartete Dinge können geschehen.”

Textzitat Diane Setterfield Was der Fluss erzählt

Es war am Abend der Wintersonnenwende ein riesenhafter Mann den “Swan” schwankend betrat, in seinen Armen ein lebloser Körper, den die Anwesenden zunächst für eine Puppe hielten und ihn für einen Puppenspieler. Wäre es doch nur so gewesen …

Als der Riese zu Boden sank, wurden sie erst seiner Verletzungen gewahr. Sein Gesicht war blutüberströmt, seine Zähne eingeschlagen, und der Körper in seinen Armen war keine Puppe, sondern ein kleines Mädchen, ganz wächsern im Gesicht. Kein Atemzug kann ihm mehr über die Lippen, kein Pulsschlag wärmte mehr seinen Körper. Sie brachten den Leichnam in einen angrenzenden Vorratsraum und schickten nach Rita Sunday, Faktotum, Hebamme und Krankenschwester. Sie kam, sah und flickte zunächst den Fremden zusammen und begann dann mit der Leichenschau. 

Eine einzige Laterne erhellte den kleinen Raum als Rita ihn betrat und sich über das Kind beugte. Die Knochen der Kleinen schienen wie von innen zu leuchten. Die in der Totenbeschau erfahrene Rita stutzte, etwas kam ihr seltsam vor an dem Kind. Eisig war es im Raum und die Zeit verlor Ihr Maß, als die Kleine plötzlich die Augen aufschlug, den Kopf drehte und der Atem des Kindes sich mit dem des nahen Flusses vermischte …

Diane Setterfield, geboren am 22. August 1964, ist promovierte Romanistin und lebt seit vielen Jahren in Frankreich. Wow, was für eine meisterhafte Erzählerin vor dem Herrn und man hat mit Anke und Eberhard Kreutzer die perfekten Übersetzer für ihren Roman Was der Fluss erzählt gefunden.

Kerzenflackern, ein Fremder, in seinen Taschen allerlei Werkzeug, eine rätselhafte Fotografie, ein Vater Unser in Gedanken gesprochen. Kiesschürfer, Männer des Flusses, Bootsflicker, Lastkähne, ein teuflisches Wehr und Ermittlungen in einer ehrwürdigen Universitätsstadt. 

Erzähl-Garnspinnerei und echte Dramen. Stimmengewirr und Spekulationen. Szenen wie geschnitzt, aus dem Stoff aus dem gute Historienromane sind. Ich fühle mich als hätte mich jemand in eine Zeitmaschine gesetzt, bin in gespannter Erwartung.

Ein Mythos, ein Schutzpatron, der Fährmann Quietly, er regiert das tintenschwarze Themsewasser bei Nacht und nur er kann seine Hände im Spiel gehabt haben. War man erst in seiner Hand wählte er das Ufer an das er einen brachte …

Eine Kindesentführung, zu wem aber gehört jetzt dieses Kind? Gleich zwei Parteien reklamieren ein Recht an dem Mädchen. Entführt oder entzogen? Das Kind ist am Leben, aber es spricht nicht. Kein einziges Wort. Eine Ähnlichkeit ist keine Gewissheit. Eine alte Fotografie kein Beweis. Rita Sunday wird zum Detektiv und zu meiner Lieblingsfigur. Diese Frau hat sich durchgesetzt, mit ihrem Können ist sie jedem Arzt ebenbürtig, mutig und zupackend. Sie ist aus dem Stoff, aus dem Helden geschnitzt werden, hart im Nehmen und voller Empathie.

Eine Lösegeldforderung. Eine von gottverlassene Gegend. Im Marschland, ein einsames Cottage, eine verwirrte Frau.

So märchenhaft wie dieser Titel klingt, so mysteriös und geheimnisvoll wird der Roman erzählt, der sich hinter ihm verbirgt. Für mich eine echte Wintergeschichte, herrlich stimmungsvoll hat sie mich entführt in eine Zeit, in der Aberglaube und von Mund zu Ohr weitergegebene Geschichten die Menschen noch auf Fährten führte, denen sie besser nicht gefolgt wären. 

Nach einer Einführung, in der ich gedutzt werde, und in der mir die Erzählerin alles an die Hand gibt was ich wissen muss um die Geschehnisse zu verstehen, geht es los, und es geht gleich gut los. Schön forensisch geht es dann weiter, so finden sich z.B. an den Händen des Mannes, der in jener schicksalhaften Nacht das “Swan” betrat und ohnmächtig darnieder sinkt, schwarze Flecken, die von Silbernitrat stammen und den Schluss zulassen, dass dieser Fremde ein Fotograf sein muss. Ganz allmählich tastet sich diese Geschichte voran und ich bin gerne am Ball geblieben, habe Hinweis für Hinweis aufgesammelt, wie Brotkrumen die auf dem Weg lagen, bin ich ihnen gefolgt. Immer wieder verzweigt sich die Handlung, wie ein Fluss mit seinen Nebenflüssen, beleuchtet die Szenen rund um die Figuren die gerade in ihnen agieren, zumeist mit dem Blick auf deren Vergangenheit.

Mit Satzanfängen wie, ” und das begann so …”, bleibt Setterfield ihrem märchenhaften Ton treu und ich wähne mich einmal mehr im Sessel am brennenden Kamin, als säße da jemand bei mir und erzähle mir diese Geschichte.

Zahlreiche Figuren bevölkern diesen Roman, es geht ihm aber nicht um sie im Einzelnen, es geht um die Geschichte als solche, um das was der Fluss und die Menschen an seinem Ufer, hinter vorgehaltener Hand, aber auch ganz offen erzählen.

Tief sind sie die stillen Wasser, nicht immer kann man ihren Grund sehen und die Flut reißt alles mit, wenn der Fluss übellaunig ist und in seinem Schlamm alles erstickt was seinem Ufer zu nah kommt.

Dunkle Vorahnungen, es wird etwas passieren, dieser Satz begegnet mir nicht nur einmal. Er ist der Unheilsverkünder und er treibt mich in der Geschichte voran.

Setterfield holt aus, denn die Zeit vor dieser denkwürdigen Wintersonnenwendennacht will auch beleuchtet werden. Alles hängt mit allem zusammen und den Fluss der Zeit hält niemand auf. Die Wahrheit drängt ans Licht und sie kommt. An die Oberfläche. Denn der Fluss kennt sie alle, die Schurken, die Beladenen, die Verzweifelten. Die, die mit Steinen in ihren Taschen zu ihm kommen. Er nimmt sie mit, wenn sie das wollen, gibt sie wieder frei, aber nur wenn er es will …

Es kann nicht sein was nicht sein darf. Aus dem Jenseits führt kein Weg zurück. Von Wechselbälger und Feenwesen.

Eine schöne Grundspannung zieht sich durch diesen Roman, der bunt ist wie ein Märchenbuch, der reichlich lose Fadenenden hat, die zusammengeknüpft werden wollen. 

Die Kunst der Fotografie, ich lerne. Über das, was es braucht, einen Moment einzugefrieren. In der Dunkelheit wird ein Streichholz entzündet. Ein Eindringling verschafft sich Zutritt. Wonach sucht er? Ein weiteres Mal halte ich den Atem an …

Simone Kabst, geboren 21. Juni 1973 in Leipzig, deutsche Schauspielerin und Sprecherin, liest mir in der Hörbuchfassung 13 Stunden 44 Minuten lang vor. Sie hat mir sehr gefallen, mit ihrer weichen Stimme und mit den Pausen, die sie beim Lesen setzt, rundet sie das Geheimnisvolle von Setterfields Geschichte perfekt ab. 

Sie beleuchtet stimmlich gekonnt die Tagträume der Helden, ihre Hoffnungen, ihre Zweifel. Ist dabei, so wie ich, wenn ein Herz aussetzt und uns ein Pulsschlag zu wenig der Wahrheit näher bringt. Wenn hinter der Laterna Magica, eine Geschichte aus Licht die Lügner und die Schweigenden enttarnt …

Es war einmal und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Wer weiß …

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