Es war einmal ein Land, gelegen zwischen dem Kaukasus und den Stränden des Schwarzen Meeres. Ein Land mit geheimnisvollen Höhlenklöstern, Bergdörfern und der alten Weinregion Kachetien. Ein Land mit labyrinthartigen Altstädten, Kopfsteinpflaster und Bergdörfern. Georgien. Seine Nachbarn, Russland im Norden, die Türkei und Armenien im Süden und Aserbaidshan im Osten, halten nicht alle etwas von dessen Eigenständigkeit. Insbesondere der nördliche der Nachbarn nicht. Zwei Landesteile hält er noch immer besetzt, nach einem Jahre andauernden Bürgerkrieg und dem Bemühen Georgiens um Unabhängigkeit. Anfang der 1990er Jahre trennte sich Georgien von der Sowjetunion, es kam zu einem blutigen Bürgerkrieg in dessen Folge mehr als die Hälfte der dort lebenden Menschen flohen.
“Manchmal lacht man über etwas, nur um ihm seine Macht zu nehmen.”
Textzitat Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde
Vor einem großen Walde von Leo Vardiashvili
Ihr Land war im Krieg, deshalb hatten sie fliehen müssen. Ein Vater und zwei Söhne, acht und zehn Jahre alt, ohne die Mutter. Die keinen Pass hatte. Nach London, Tottenham. Das dann ganz anders war, als sie es sich vorgestellt hatten. Davon erzählt uns der jüngste der beiden Söhne. Davon und vom mutterlos sein, vom Ankommen in der Fremde. Von den hilflosen, zornigen Versuchen des Vaters die Mutter frei zu kaufen. Was sechs Jahre lange nicht gelingen wollte, so sehr er sich auch mühte. Ihre Mutter starb in Georgien und ihr Vater alterte nach Erhalt der Todesnachricht in diesem Winter um ein Jahrzehnt.
2010 bricht dann der Vater auf und verschwindet. In Georgien. Eine letzte E-Mail erreicht seine Söhne, sie sollen nicht nach ihm suchen. Er habe etwas getan was unumkehrbar sei. Sie tun es dann doch. Nach ihm suchen. Erst Sandro, der Älteste und als auch er verschwindet, bricht der Jüngste, Sabo auf. Landet in Tiflis. Wo er als erstes einem Nashorn, nein, einem Flusspferd begegnet. Mitten auf der Straße. Eine Flutwelle hatte am Tag zuvor den Zoo geräumt, sein Taxifahrer schien relativ entspannt angesichts des Zuwachses an Hyänen, Wölfen, Strraußen und anderen Exoten, den die Stadt auf diese Weise bekommen hatte. Willkommen in Georgien, sagt er. Willkommen im Chaos.
Leo Vardiashvili, weiß wovon er da erzählt. Er selbst ist in Tbilissi aufgewachsen. Im Alter von zwölf immigrierte seine Familie nach England, er studierte in London Literatur, wo er auch heute noch lebt und arbeitet. Als Steuerberater in Birmingham und jetzt auch als Autor.
Was klingt wie der Titel eines Märchens ist in diesem Fall keines, “Vor einem großen Walde” besticht aber durch sein märchenhaftes Erzählen. Methaphern wie “Georgien fraß sich auf, bei lebendigem Leibe” machen dann auch gleich zu Beginn des Textes Ernst und blitzen immer wieder durch blumig formulierte Sätze. Vardiashvilis Geschichte weiß zu überraschen, nicht nur durch einen opulenten schmökerhaften Erzählstil, sondern auch durch ihre Wendungen und Ereignisse und durch einen Ton.
Michael Jackson Poster, Teddybären und die Geschichten der Mutter.
Erinnerungen an Verstorbene und Landminen. Abtrünnige Regionen und aufdringliches Schweigen.
Eine leichte Lakonie durchzieht den Text. Macht leichter aushaltbar, was hier schwer wiegt. Ein zerrissenes Land. Der Verlust von Angehörigen. Der Widerhall ihrer Stimmen in den Dingen.
Sätze wie Brotkrumen. Dieser hier auf dem Zettel ist von Sandro und stammt aus Hänsel und Gretel: Vor einem großen Walde, da wohnte ein armer Holzhacker …
Die Zeit ist geteilt, in die vor und in die danach. Nach dem Krieg.
Auf der Suche nach seinem Bruder und Vater begegnet Saba seiner/ihrer Vergangenheit. Der seiner Familie. Auf Schritt und Tritt. Im Botanischen Garten in Tbilissi, der für sie als Jungs immer der große Wald gewesen und der jetzt verwahrlost ist. Auf dem Friedhof. Hier haben sie seine Mutter beerdigt und er weiß nicht wo. In seinem Elternhaus.
Entlaufene Tiger, aufgerissene Kehlen, viel Glück und genau keines. Die Mutter Georgiens und ihr Schwert. Auf dem Hügel. Die Geister in der Vergangenheit. Schemenhaft und undeutlich.
Was wenn Sie Sandro jagen für das was er gefunden hat. Was wenn sie ihn finden?
Stimmen in seinem Kopf, die Stimmen Toter. Alte Freunde, Schulkameraden, ein Vertrauensbruch, nachvollziehbar aber deshalb nicht weniger schmerzhaft. Ein Haus ohne Geruch und Geschmack, seine Seele längst ausgeflogen, eine Rückkehr nach Hause unmöglich.
Noch immer streift ein Tiger umher, durch Tage und Nächte, hinterlässt eine blutige Spur, gehen Freunde verloren, findet sich nicht was man vermisst.
Sabo nimmt uns als Ich-Erzähler mit auf seiner Reise, wir folgen ihm bis in seine Träume und wieder hinaus. Manuskriptseiten wie Brotkrumen, fungieren als Wegweiser, wohin führt ihn diese Schnitzeljagd?
Lasst Euch von einem gewieften Erzähler nicht täuschen. Nichts ist bei diesem Roadmovie hier ist märchenhaft, denn Märchen gehen schließlich immer gut aus. Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende … Ihr wisst schon. So manches mal lächelte ich, über Sabo, der mich umplaudert, Weisheiten zum Besten gibt, die nicht immer von ihm allein stammen, dann gefror es mir. Mein Lächeln. Nach und nach, holt Vardiashvili Erinnerungssplitter für Erinnerungssplitter aus der Versenkung und da kommt auch schmerzhaftes ans Licht. Tragisches. Patriotisches. Lügen. Schweigen und Kummer. Die Handlung treibt mich. Das Geschehen erschrickt mich. Da ist wenig was tröstet und doch. Diese Freundschaft zweier im Grunde Fremder rührt etwas in mir auf. Derweil Leo Vardiashvilis besticht, durch seine bilderreiche Sprache und mit Formulierungen wie, ich mache mal ein Beispiel, “als Stalin noch seine Hände an den großen roten Zügeln hatte“. Seine Übersetzerin Wibke Kuhn weiß wie man diese Sätze im Deutschen in Szene setzt und tut es. Ganz großartig, während sie mit dem Autor und einem Augenzwinkern am Geschehen bleibt, das nicht überdeckt, wer hier mit ganzer Härte gegen wen vorgegangen und wie unmenschlich dieses Kriegsgeschehen gewesen ist. Osseten gegen Abchasier, gegen Georgier, Saba bleibt unterwegs in einem Land, einer Grenzregion, wo Brüder und Landsleute die Waffen aufeinander gerichtet haben wie im Blutrausch, wo Felder versalzen wurden, Häuser niedergebrannt, ganze Landstriche der Verödung anheim gegeben, nur das der jeweils andere nichts mehr davon hat.
Darum geht es. Um das Schicksal, um Freundschaft, Familienbande, Schuld und darum sich miteinander und mit Vergangenem zu versöhnen. Um Vertrauen und um das Abschließen mit dem Unabänderlichen, um das, was vor und in einem großen Wald geschah …
Mit Shenja Lacher, geboren am 20. März 1978 in Erlabrunn/Erzgebirge, deutscher Schauspieler, treffe ich in der Hörbuchfassung auf einen alten Bekanten, den ich länger nicht im Ohr hatte. Texte mit nachdenklicher Note und leisem Humor liegen ihm, auch in diesem Fall habe ich ihm gerne zugehört. Er lässt den Text von Vardiashvili noch ein kleines bisschen mehr über sich hinauswachsen. Leicht nachdenklich und auf das allerbeste unterhalten kehre ich aus Georgien zurück, nicht bevor ich noch einen Schluck des köstlichen Weines probiert habe, der hier tief in der Erde in ausgewachsten Krügen reift. Wie das geht, diese Tonkrüge zu wachsen, auch das habe ich mit Saba und von dessen Begleitung gelernt …
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