Endlose Weite, kilometerlange dichte Wälder, sattgrüne Wiesen, seichte Sandwege und die größte zusammenhängenden Heidefläche Europas. Das Landschaftsschutzgebiet Lüneburger Heide, im Nordosten Niedersachsens, lockt im Frühjahr mit seiner Wollgrasblüte, im Spätsommer mit der Heideblüte und im Winter mit von Rauhreif glitzernden Flächen, Fotografen, Radfahrer und Naturliebhaber an, wie der Nektar die Biene.
Eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch, mit düsterer Vergangenheit und militärisch geprägter Gegenwart. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen und das KZ-Aussenlager Tannenberg grenzen an die Ränder des heutigen Nationalparks Südheide mit seinen Gemeinden an. Weiter nördlich befindet sich der Truppenübungsplatz Munster und im Westen der NATO-Übungsplatz Bergen. Mitten hinein legt Markus Thielemann den Schauplatz seines aktuellen Romans und lässt die Vergangenheit auch ihren langen Arm nach seinem Helden ausstrecken. Alles beginnt mit einer Vision, in einer durchzechten Nacht, Albträume quälen Jannes, Nachwuchsschäfer, Heidjer, neunzehn Jahre alt hernach, des Tags kommt er immer wieder an den Rand einer Ohnmacht. Bis er einen Zusammenhang herstellen kann, ist es nicht nur für ihn ein weiter Weg.
Wir wissen es gibt kein Licht ohne Schatten, keinen Tag ohne das Dunkel. Dort arbeiten wo andere Urlaub machen, ist objektiv betrachtet selten romantisch. Überhaupt geht es in diesem Roman auch um die Schatten. Die Schattenseiten des Tourismus, von Subventions- und Tierwirtschaft, um den Mangel an politischem Diskurs. Um das fehlende Maß im Umgang unter- und miteinander, um Familienzusammenhalt und Mehrgenerationenkonflikte. Wir begleiten dabei Thielemanns Protagonist auf seinem Weg durch seine Heide und staunen nicht schlecht, was sich da zusammenbraut …
Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt Um ihre alten Gräbermale;Theodor Storm aus Abseits
Markus Thielemann, geboren 1992, studierte Geografie und Philosophie in Osnabrück, sowie anschließend Literarisches Schreiben in Hildesheim. Sein schriftstellerisches Debüt gab er 2021 mit einer Aussteigergeschichte <Zwischen den Kiefern> im Katapultverlag (und ich sag’s besser gleich, die will ich jetzt auch noch lesen!). <Von Norden rollt ein Donner> ist der zweite Roman des Wahlhannoveraners, erschienen bei C.H. Beck, herzlichen Dank an dieser Stelle für das Rezensionsexemplar, mit dem er sich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 und damit unter den letzten sechs Titeln platziert hat.
Im diesjährigen Spätsommer war seine Geschichte für mich die zweite, die u.a. mit der aktuellen politischen Auseinandersetzung in unserer Republik beschäftigt. Anders als zuletzt bei Elsa Koester und ihrem <Im Land der Wölfe> eröffnet Thielemann nicht nur klassisch, mit einem Zitat von Theodor Storm, sondern verhandelt auch inhaltlich, am Beispiel einer traditionellen Schäferei, ein deutsches Idyll. Eines das ein Donner stört, der von Norden heranrollt und blitzlos verhallt, erzeugt durch Testmunition des Waffen-und Munitionsherstellers Rheinmetall und durch ihn: Den Wolf. Für Thielemann ist die schützenswerte Heimat, der Erhalt von Besitz und Wohlstand der Vordergrund, eine grandiose Landschaft, die wir so manches Mal als gestrig und angestaubt abtun, der Hintergrund. Seine Autorenkollegin Koester führt zwar auch den Wolf im Titel, sie lässt ihn allerdings sinnbildlich stehen, beschäftigt sich intensiv mit den Beziehungen politisch unterschiedlich Aktiver. Im Gegensatz dazu ist bei Thielemann der Wolf körperlich zurück in der Heide und mit ihm die Furcht. Sie geht um unter den Tierwirten während ihr Zorn wächst, dass sie mit ihren Sorgen um ihre Herden auch von der Politik allein gelassen werden.
Unter ihnen die Kohlmeyers, die Spuren, die Jannes, Nachwuchsschäfer und Sohn der Familie, unter den Klauenabdrücken seiner Schnucken ausmacht, wirken wie ein Initialfunke der Eskalation, die mir nicht an den Haaren herbeigeschrieben scheint …
“Kieferngrüppchen und Hoffassaden erscheinen und verschwinden auf der Horizontlinie, wie Holzkulissen, scharf ausgesägt vorm Nachtblau und den immer gleichen Wintersternen.” – Textzitat Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Von Norden rollt ein Donner von Markus Thielemann
“Willkommen im Auenland” hatte sein Vater auf den Rand eines Fotos, das im Arbeitszimmer hing, geschrieben. Es zeigte die Heide, frisch grün, leicht hügelig, hinter dem Hof, ihn und die Mutter davor, jung und lachend. Eine Bilderbuchidylle. Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Blick ist der Familie heute nicht mehr zum Lachen zumute. Die Großmutter dement und im Heim, der Großvater verbittert. Die Mutter erschöpft und abgearbeitet und der Vater, der Jannes Adoptivvater ist, krank. Wie krank wissen sie noch nicht. Ein Neurologe soll klären und der Termin bei ihm schwebt wie ein Damoklesschwert über ihnen, wird immer wieder verschoben. Jannes Schwester hat sich das Studium noch von den Eltern finanzieren lassen, den zweiten Mann ihrer Mutter aber nie akzeptiert und als sie beschloß ihn nicht zu ihrer Hochzeit einzuladen ist auch Jannes nicht hingefahren. Er hängt an diesem Mann, mehr als er wahrhaben will. Seither ist die Schwester nicht mehr nach Hause gekommen, man hat sich Jahre nicht gesehen oder gehört und Jannes hängt hier fest. Die Heide wie eine Schlingpflanze am Bein. Außer der Herde, dem Stall und gelegentlichen Besäufnissen mit zwei alten Schulfreunden hat er wenig Abwechselung. Fortgehen ist für ihn aber auch keine Option. Die Arbeit mit den Tieren mag er schon und jetzt wo der Vater immer mehr vergisst, diese Landkarte in der Küche aufgehangen hat, auf der er mit roten Pins markiert wo die Wölfe bereits zugeschlagen haben und sie ihren Hof immer enger eingekreist sehen, da muss er ihn doch unterstützen.
Ein Absturz an Halloween. Geblöke, Gebell und Klauengeklacker auf Alu. Jannes allein unter Schnucken. Soldaten- vs. Schäfersöhne, ein Weihnachtstreffen unter Schulfreunden, sorgt der Alkohol für diese Sprüche oder sind sie etwa ernst gemeint? Ohnmachtsgefühle und die Sorge um die Gesundheit des Vaters. Ein Test mit einer Herdenschutzhündin. Ein neuer, teurer Wolfszaun. Ein Versammlung und jede Menge Wut.
Dann kommt auch noch der NDR und Jannes und der Opa sollen ran. Zeigen was über Generationen hinweg hier Bestand hat. Perfekt! Gärtner der Heide, abgerechnet wird in Kaffeefahrten, sagt der Opa, klingt lakonisch aber er meint es so. Die Alten hätten am Ende doch noch den längeren Hebel, meint der frischgebackene Viehwirt und Junior und will, das das dann doch wieder rausgenommen wird. Alles ganz prima also.
Kristallklar, daran dachte ich bei Thielemanns Erzählton zuerst. Seine Prosa mochte ich sehr, mal wirkt sie friesisch herb in der Situationsbetrachtung, dann jugendlich im Überschwang oder bildhaft und poetisch bei Landschafts- oder Wahrnehmungsbeschreibungen. Mit ihnen hat er mich komplett gekriegt. Überhaupt fand ich seinen Text ungemein authentisch. Man wähnt sich sofort mittendrin statt nur dabei. Meint die Figuren wie Nachbarn zu kennen, sie müssen aus Fleisch und Blut sein. Keine Frage.
Mit einem wachen Blick für die Details, gleich ob für die von Arbeitskleidung oder Kaffeetassen, beeindruckte mich Thielemann. Sehr empathisch bleibt er eng bei seinen Figuren, die alles andere als einer Meinung sind, auch nicht innerhalb ihrer Familienverbände. Schon mal trotzköpfig und unversöhnlich kommen sie daher. Schweigen viel, verschweigen einander einiges und verstehen sich eben doch. Manchmal. Auch ohne Worte.
Bewundert habe ich bei Markus Thielemann, wie er es schafft die Eingangs erwähnte Themenvielfalt zu verhandeln, ohne seine Geschichte damit zu überfrachten. Wie er sie alle am Wolf aufhängt, der in seinem Kielwasser auch die anspült, die mit den “einzig richtigen Ansichten” im Gepäck unterwegs sind. Mit den völkischen. Der Rand, an dem sie daherkommen verläuft sehr weit rechts, das verwundert nicht wirklich und das es in einer Familie und unter Nachbarn und Freunden darüber kriselt auch nicht.
“Sie schießen ihre Fotos von der Landschaft, die so lieblich blüht und strahlt in Rot und Violett, den Farben des Hämatoms, der nie verheilten Wunde.” Textzitat Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Zwangsarbeit. Alte Fotos, eine alte Schuld, unbeglichen? Ein Geheimnis, so lange gewahrt. Dann ein halbes Geständnis und das Ahnen, es schmerzt bis auf die Knochen.
Stilistisch hatte mich Thielemann mit den teils apokalyptischen Visionen, die seinen Jannes umtreiben sofort am sprichwörtlichen Haken, wie er den Brief einer Holocaust Überlebenden einbindet, seine Geschichte dann wendet, Augen öffnet und den Horizont. Gegen das Vergessen. Sein Wording dazu so passend und wunderschön! Dafür mochte ich seinen Roman noch mehr! Alle meine verfügbaren Daumen sind jetzt für den Deutschen Buchpreis gedrückt! Toi Toi Toi!
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