Reise nach Laredo (Arno Geiger)

Moment, woher kenne ich Laredo? Fragt mich mein Mann, nachdem ich diese Geschichte aus dem Postkasten gefischt. Laredo? War das nicht eine Fernsehserie, die Anfang der Siebziger gesendet wurde, sagt er? Stimmt. Laredo ist eine Stadt in Texas, der älteste Grenzübergang von und nach Mexiko, und ja, auch eine Westernserie der NBC, die, mit immerhin sechsundfünfzig Folgen, gesendet wurde gibt es tatsächlich. Da hat er recht, mein Mann der Westernfan, aber Laredo ist auch der Name einer Stadt in Spanien. Gelegen zwischen Santander und Bilbao, zwischen dem Rio Treto und der Bucht von Santoña, ausgestattet mit dem längsten Sandstrand Nordspaniens, touristisch bedeutsam und Arno Geigers aktueller Roman führt uns eben nicht in den Wilden Westen, sondern am Ende genau hierher:

Erst wenn man die Wahrheit schreibt ist eine Geschichte aus. Also nie.

Textzitat Arno Geiger – Reise nach Laredo

Eine himbeerfarbene Mütze, schmerzhafte Behutsamkeit, eine Wanne mit Wasser. Ein alter Mann, Karl, die Beine geschwollen, die Zehen von der Gicht gekrümmt, wird angehoben, schwebt, um hernach in einem Zuber mit Wasser zu verschwinden. In aller Öffentlichkeit. Für die Einen eine Abwechslung inmitten endlos lang scheinender Klostertage. Für die Anderen ein schambehaftetes Spektakel.

Insgesamt siebenundvierzig Personen, Männer und Frauen, Leibarzt, Beichtvater und Diener, hatte er, Karl, zurückgetretener König, hierher nach Yuste gebracht. Er war ihr Zentrum und sie warten, gemeinsam mit ihm. Auf seinen Tod. Sein innerer Kalender zählte achtundfünfzig Jahre. Eineinhalb Jahre verbrachten sie jetzt schon hier, inmitten der Einöde des Nirgendwos, in Einsamkeit und der Gleichförmigkeit ihrer Tage. Wir schreiben das Jahr 1558.

Sein jüngster Sohn, Geronimo, der nicht im Geringsten ahnte, dass der ehemalige Kaiser und König Karl sein Vater war, ließ auf der Gartenmauer seine Beine baumeln, während umstehende Zypressen die Achseln zuckten. Er war der Page des mürrischen Alten, aber sie kannten sich im Grunde nicht. Lernten sich erst kennen, ab dem Tag, als sie gemeinsam aufbrachen, zunächst auf Maulesel und Pferd und wer jetzt an Don Quichote denken muss, dem ergeht es so wie mir …

Arno Geiger, geboren am 22. Juli 1968 in Bregenz, studierte Deutsche Philologie, Alte Geschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft, seinen Roman Unter der Drachenwand aus dem Jahr 2018 habe ich seinerzeit gerne gehört, verlinke meinen Beitrag an dieser Stelle für Euch, ihr kennt das schon:

Geigers Sprache und den Ton, den er in Laredo anschlägt, mochte ich. Sehr gern. Seine Kernidee ebenfalls, trotzdem war ich versucht seine Geschichte anfangs und zwischendurch vorzeitig zu verlassen. Die Geschichte plätschert eine ganze Zeit lang vor sich hin, bis sie eine abenteuerliche, auch wehmütige Seite zeigt und es zu einer sogar spannenden Verdichtung kommt. Geiger nimmt sich seine Zeit auf diesem historisch fiktionalen Roadtrip, da brauchen Hörende etwas Geduld und Aufmerksamkeit und es steckt mehr drin zwischen diesen Zeilen und Silben, als man auf auf den ersten Blick meint. Vielleicht steht Geigers Laredo deshalb auch auf der Nomminiertenliste des Österreichischen Buchpreises 2024. Man darf gespannt sein, ob er sich in diesem Wettbewerb am Ende durchsetzen wird.

Wer weist hier wem den Weg? Der Page dem König ohne Krone oder der alte Monarch dem Jungen? Hat diese Geschichte eine historische Home Base von der sie abspringt? Hat sie. Ist es erforderlich sie zu kennen um zu verstehen? Nicht zwingend. Es macht allerdings Laune, sich ein wenig einzulesen in das Leben des Habsburgers Karl I., der am Ende seines Lebensweges in Yuste strandete. Ob er tatsächlich zu einer solchen Reise aufgebrochen ist, dazu schweigen meine Quellen. Aber wer weiß …

Was Karl in Laredo findet, wird nicht verraten, aber es geht rund unterwegs. So schießt er zu Beginn einem Mann ein Loch in die Mütze und rettet auf einem Galgenberg damit ein Geschwisterpaar. Eines, das zu den Cagots gehört und dazu recherchierend etwas in die Tiefe abzusteigen lohnt sich sehr.

Gänse- oder Entenfüße aus rotem Stoff mussten sie als Erkennungszeichen bis weit ins 15. Jahrhundert an ihrer Kleidung tragen, die Cagots. Man hielt sie für Zauberer, Menschenfresser, Päderasten. Ächtete sie, vertrieb sie. Bis in die entlegensten Pyrenäentäler, wo viele von ihnen umkamen. Das sich ihnen bei Arno Geiger ausgerechnet der Habsburger Karl V., der vielleicht bedeutendste Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (deutscher Nation), König von Spanien und Sohn von Johanna der Wahnsinnigen annimmt, ist eine spannende Konfrontation. Ein Monarch, der seine Kriegszüge mit Gold und Silber finanzierte, das er aus seinen Überseekolonien presste, wo der Umgang mit der indigenen Bevölkerung nachgewiesen mehr als grenzwertig gewesen ist. Ein Mann, der im seinerzeit biblischen Alter von achtundfünfzig jeden Knochen und sein Ende kommen spürt. Angst hat. Davor und vor dem Sterben. Der auf dieser Reise das Loslassen übt und das Mitteilen, der sich zögerlich öffnet. Eine menschliche Seite zeigt. Sogar Freundschaften schließt. Etwas das ihm bislang offenbar vollkommen abgegangen ist.

In dieser Geschichte, auf den letzten Metern seines Lebensweges, er hat abgedankt, sein Sohn ist am Ruder, ist ihm außer seiner diffusen Angst nur die Gicht und die Langeweile geblieben, bis der elfjährige, unbeschwerte und dauerneugierige Geronimo dem ein Ende setzt. Mit seiner verwegenen Idee eines Ausrittes, der sich zu einer Reise auswächst. Das der Ex-Kaiser, einem Impuls folgend, in all seiner Gebrechlichkeit, tatsächlich aufsitzt, mit ihm aufbricht, damit war im Grunde nicht zu rechnen und entbehrt nicht einem gewissen Humor.

Es geht nach der schicksalhaften Begegnung mit den Cagots und deren Häschern, gemeinsam mit den beiden Geretteten und ihrem Fuhrwerk, weiter. Ganz ohne Grund und ohne Zweck, so Karl, nur als ein Vorhaben, ab jetzt Hauptstraßen meident.

Sie treffen auf einen verschlagenen Wirt, eine Totenstadt, eine aufgegebene Silbermine. Aus Neu-Indien kommt jetzt das kostbare Edelmetall.

Ein Greif und andere teils märchenhaft anmutende Figuren beginnen die Geschichte zu bevölkern. Der Greif, ein Fabelwesen halb Löwe, halb Raubvogel, das Wappentier vieler Könige, den man im Mittelalter durchaus für real hielt, trifft bei Arno Geiger leibhaftig auf unsere Reisegefährten und wird Ihnen gar zum Retter. Geiger bindet ihn ganz selbstverständlich ein, als ein exotisches, atemstockenlassendes Tier, das Geronimo vollkommen aus dem Häuschen geraten lässt. Der im Übrigen immer noch nicht weiß, wessen Sohn er ist.

Karl wird zum Tanz aufgefordert, fühlt sich leicht, versäuft und verspielt, verzockt, beim Kartenspiel die Reisekasse.

Ab dieser Stelle war ich dann endgültig ganz Ohr, mochte diesen Teil der Geschichte sogar am liebsten. Dramaturgisch packt Arno Geiger da noch mal ordentlich in die Trickkiste. Erzählt Historisches modern und sprachlich einfach wunderschön. Lässt seinen Karl Albrecht Dürer und Tizian zitieren, denen er einst Model gesessen hatte oder mit denen er anderweitig im Gespräch gewesen war.

Geisterstunde, ein Toter, Perleidechsen, über einen Meter lang und dann ein Ankommen.

Karl geht schwimmen. Ein allerletztes Mal. Im Meer, wo sich alle Wege trennen.

Ein weinender Junge auf einer steinernen Bank. Es endet wo es beginnt. Ein Lebenskreis schließt sich. Alles löst sich. Alles fließt.

Der Weg ist das Ziel, ich bin am Ende der Geschichte angekommen und sage gerne, gönnt Euch und Euren Ohren bitte die ungekürzte Hörbuch-Fassung, erschienen bei HörbuchHamburg als Download oder CD, denn es liest:

Matthias Brandt, geboren am 07. Oktober 1961, Schauspieler, Autor, Hörbuchpreisträger, jüngster von drei Söhnen unseres ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt. Seit 1989 trat er in mehr als Achtzig Film- und Fernsehproduktionen auf, wirkte in zahlreichen Theaterstücken mit, weiß Wikipedia. Ich weiß, der belesene Schauspieler ist noch immer mein liebster Hörbuchsprecher. Er macht jedes Hörstück zu einem Ereignis. Wenn ich seinen Namen auf einem Hörbuch entdecke, entscheide ich mich immer für das Hören, schaue gar nicht hin, wer da schreibt oder um was es geht. Das mache ich nur bei ihm. Lasse mich von seiner Ruhe und seiner sanften Melancholie einhüllen und verzaubern. Jedes Mal auf’s Neue. Auch der Erzählton Arno Geigers wird von Brandt wunderbar getragen, dessen Stimme und Intonation für mich nicht nur einen hohen Wiedererkennungswert haben, wenn er vorliest, fühlt es sich für mich stets so an, als öffne ein Freund die Tür und hieße mich herzlich willkommen. Einfach nur Danke. Dafür!

Ein Dankeschön geht auch raus an den Verlag Hörbuch-Hamburg für das mir zur Verfügung gestellte Besprechungsexemplar und für diese wunderbare Produktion!

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