Auf der Seite des RKI, das uns eng durch die zurückliegende Pandemie begleitet hat, findet sich eine eigene Rubrik zum Thema psychische Erkrankungen. Hier kann man u.a. lesen, wie sehr die Teilhabe an gesellschaftlichem oder dem Arbeitsleben bereits durch leichtere Formen negativ beeinflusst wird. Das solche Krankheitsbilder zunehmend diagnostiziert werden, liegt wohl nicht allein an dem veränderten Bewußtsein von Ärtzt:innen, die bei bestimmten Symptomen mittlerweile auch vermehrt in diese Richtung denken, sondern auch an dem Druck, dem Leistungsdruck, der in unserer Arbeits- und Umgebungswelt kontinuierlich zugenommen hat. Frauen reiben sich auf zwischen Familie und Beruf, die Anzahl Alleinerziehender wächst, klassiche Rollenbilder von Vater, Mutter, Kind, Familienmodelle zerfallen. Social Media Profile gaukeln perfekte Welten vor, denen es nachzueifern gilt. Ein Wettlauf, der nicht zu gewinnen ist und würde man einmal hinter diese Fassaden schauen können, würde man ihn wahrscheinlich gar nicht erst beginnen wollen. Auszubrechen, aus gewohntem Trott, Ballast abwerfen, das wünschen sich viele, manche schaffen es, wenige tun es. Hilferufe senden, das schon. Viele verhallen ungehört …
Findet mich von Doris Wirth
Ein Vater, der einem die Welt erklärte. Der Fragen liebte, besonders die technischen. Der einen rettete, wenn man in die Brennesseln fiel. Der Orgel spielen konnte, Karten zocken und es einem beibrachte. Der das Autofahren liebte, ob mit oder ohne Begleitung, der Erfinder von Alltagshelfern, schlicht ihr Held war. Erwin war für Lukas und Florence aber auch ein Vater, der sie anschrie und rügte. Dann, wenn sie nicht genügten. Der einforderte, dass sie sich im Haushalt einbrachten. Der dafür Meetings am Küchentisch einberief, dann die Buchhaltung offenlegte. Den Sprösslingen zeigte, was sie ihn monatlich kosteten und mit Listen und Dokumentationen kam, da waren die beiden fünfzehn und siebzehn. Florence hatte zu dieser Zeit bereits eine Essstörung entwickelt und alle gingen zum Therapeuten. Allerdings nicht lange …
Maria war ihre Mutter. Sie schwieg oft bei solchen Ausbrüchen und tröstete. Im Nachhinein. Weil sie keinen Ehekrach mit ihm wollte. Mit Erwin. Den sie liebte. Weil er sanft war. Im Grunde. Mitfühlend und verständnisvoll, außer die Kinder blamierten sich oder ihn. Dann kam sein Vater durch. Werner, der selten bis nie mit Erwin zufrieden war. Auch heute nicht. Beruflich war es halt grad schwierig. Der seinen Sohn noch rund machte und klein, da war er bereits dreiundvierzig.
Doris Wirth, geboren 1981 in Zürich, aufgewachsen in der Schweiz, studierte Filmwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin. Mehrfach ausgezeichnet für ihre Art des Schreibens, legte sie mit Findet mich in diesem Jahr im Geparden Verlag ihr Romandebüt vor und landete damit prompt unter den Nomminierten der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024. Ich darf mich an dieser Stelle für das Besprechungsexemplar bedanken, auch bei Dir liebe Birgit, und wieder landet ein Tipp von Dir einen Treffer ins Schwarze!
Beinahe hätte ich den Titel, Hand auf mein Herz, nach einem Blick auf die Inhaltsbeschreibung, achtlos zur Seite gelegt. Familiengeschichten gibt es zur Genüge, dachte ich und für Männer in der Midlife Krise schlägt mein Herz nur bedingt. So dachte ich. Wie Frau sich doch irren kann! In diesem Jahr habe nur einen Roman gelesen, ich weiß ihr könnt es schon nicht mehr hören, jetzt komm ich wieder mit Der Stich der Biene von Paul Murray, der ein ähnlich geniales Erzählkonstrukt hat. Wie einem so was einfallen kann, ist mir ein Rätsel und ich feiere Doris Wirth dafür sehr! Unvorhersehbar, ungeheuer empathisch, einfach großartig hat sie das gelöst.
Meist kurze prägnante Sätze geben bei ihr den Ton an. Zeichnen die Leben derer nach, die sie uns vorstellt. Das macht ihre Geschichte unterhaltsam, nahbar und sehr gut lesbar. Als Lesende werden mit den Kindern dieses Ehepaars erwachsen, tauchen immer wieder in unterschiedliche Zeiten durch Rückblicke ab und wieder auf.
Im Wechsel und Reihum schauen wir durch die Augen von Erwin, Maria und durch die der beiden Kinder. Hören von dem was sie erinnern, dem Schwimmbad, dem Spielplatz, gemeinsamen Ferien, dem Skifahren, dem Wandern in den Bergen und von dem Wal-Kissen, es gehört zu Lukas, das immer mit musste und das sie einmal an einer Autobahnraststätte bei Marseille vergessen haben. Erwin fuhr allein einhundertzwanzig Kilometer zurück um es zu holen. Da waren die Kinder noch klein und ihre Sorgen auch.
Das der Vater schon immer auch allein fortgegangen ist, ausgegangen, die Mutter in den Kleinkinderjahren Musik gemacht hat, einmal wöchentlich zur Probe ging, um für sich zu sein und unter Erwachsenen. Dann auch alleine verreist ist. Das war ihr normal. Weil das ihr, Marias Handel war. Mit dem Vater. Weil der Dinge brauchte, die sie ihm nicht geben konnte und wollte. Von Anfang an. Bis auf eine, gab es keine Bedingung die sie stellte und er akzeptierte.
“Sie will den Menschen nicht teilen, will seine Liebe exklusiv. In seinem Herzen: sie. Hofft sie. Wünscht sie. Spürt sie. Und sie gibt ihm ihres. Wenn sie es hergibt, will sie es nicht zurück. Seit sie auf der Welt ist, war sie nie etwas anderes: treu, zugewandt, und für die, die zu ihr halten, immer zur Stelle.”
Textzitat Doris Wirth – Findet mich
Regelrecht überrumpelt, hat mich Doris Wirth mit ihrem Text. Denn es geht nicht nur um Erwin. Wie könnte es das auch. Wo er ja Familie hat. Seite um Seite wird die Geschichte mehr zu einem Aufschrei. Die gegenseitigen Verletzungen schmerzhafter. Das geht tief. Das und die Leichtigkeit mit der Wirth das Schwere erzählt. Ihre Sätze wirken wie aus dem Ärmel geschüttelt, ungekünstelt und unverstellt. Kein Stück verkopft oder sperrig, sitzt jedes einzelne Wort. Auch die schweizerischen, die sie ganz sanft untermischt.
Man spürt ihren Text körperlich, als Lesende hat mich das gehörig aufgewühlt und ich bin durch die 324 Seiten förmlich geflogen. Wollte immer weiter um die nächste Satzecke, die nächste Perspektive einnehmen, um noch einmal besser zu verstehen. Wollte mit Maria, Erwins Frau, all die inneren Schubladen aufziehen, in denen sie verstaut was weg muss. Dagegen er, der alles rausbrüllt, der immer schlimmer verbal um sich schlägt, bis andere nicht mehr können. Zumeist seine beiden Kinder.
Dazu dann dieses echt ausgebuffte Plotkonstrukt und diese Sprache! Der Ton macht die Musik, in diesem Fall der Erzählton von Doris Wirth. Manchmal nüchtern, immer klar, dreht sie diese Familie wie ein Kaleidoskop.
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