Unser Ole (Katja Lange-Müller)

Geschichten entdecken, die man so gar nicht auf dem Zettel hatte. Die sich auf bekanntem Terrain ganz unerwartet entwickeln, in denen um die Ecke gedacht wird, die zurück- und vorausblickend zugleich sind. Die ihr Personal nicht schonen. Die eher auf die Schatten schauen. Mag ich. Suche ich. Geschichen wie diese hier und darum geht es, denn es geht gleich richtig los:

Unser Ole von Katja Lange-Müller

Elvira ist tot. Liegt mit verrenkten Gliedern am Fußende der Treppe. Ole steht oben am Treppenabsatz. Stumm, kalkweiß und verstört. Ein junger Mann, war er jetzt, stark wie ein Bär, einer der autistisch in seiner eigenen Welt lebte und der, wenn man seine Kreise störte, in Jähzorn verfiel. Der seine Kraft dann nicht zähmen konnte.

Ida lebte seit zwei Jahren mit Elvira zusammen, in deren kleinem Haus. Kennengelernt hatten bei sich bei einer Modenschau für Senioren und alsbald danach diese Zweckwohngemeinschaft gegründet. Ida war pleite und Elvira hatte Unterstützung gesucht für die Betreuung ihres Enkels.

Von Beginn an war Ole, Elviras Enkel, Ida unheimlich gewesen und der Verdacht, er habe seine Oma die Treppe hinunter gestoßen, gärte jetzt in ihr. Der herbeigerufenen Polizei gegenüber hielt sie daher damit auch nicht hinter dem Berg, das obwohl sie selbst nichts beobachtet hatte.

Eine Ermittlung, Leichenbeschau inklusive, wird eingeleitet. Die Erbin, die einzige Verwandte, gesucht.

"Elviras ‚Eigenheim‘, ein rauputzgrauer Würfel mit Eternitdach,
befindet sich auf einem Eckgrundstück am Rande eines Dorfes
nahe der Hauptstadt, von der aus es per Auto gut, per
Regionalbahn und Bus aber nur bis neun Uhr abends zu erreichen
ist. Elvira nannte ihre abgelegene Gegend einmal „das letzte Loch
im Berliner Speckgürtel." (Textzitat Katja Lange-Müller)

Wie das Haus vom Nikolaus, so sieht es von außen aus, drinnen allerdings geht Wohnromantik anders. Ida hatte im Haus von Elvira eine dunkle Ein-Zimmer-Wohnung bezogen, die aber mietfrei. Immerhin.

Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Ostberlin, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin in Berlin und im Aargau. Für Ihr Schreiben wurde sie mehrfach Preis ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann und dem Günther-Grass-Preis. Für mich ist dies die erste lesende Begegnung mit ihrem Erzählen gewesen und gerne möchte ich nach dieser Lektüre weitere ihrer Geschichten kennenlernen.

Weil sie mich mit einer, so habe ich es empfunden, messerscharfen, unprätentiösen Sprache beeindruckt hat. Wie sie Ereignisse verdichtet, ihre Feder immer wieder spitzt, wie ungeschönt, ja ungeschminkt sie uns (ihre) Wahrheit(en) präsentiert, das liest man mit angehaltenem Atem und so nicht alle Tage. Bis zur letzten Zeile hielt sie mich auf Trapp, das ohne große Rahmenhandlung, Figurenreigen und ausufernde Erzählebenen. Stringend und klar. Mit dem Grauen des Alltäglichen.

Ganz schön böse auch, auf eine gute Art und mit einem ganz eigenen Humor. Ihre Figuren sind charakterlich nicht unbedingt einwandfrei, es hat ungeliebte Töchter, gestrenge, lieblose Mütter, Sugar-Daddys, Ecken, Kanten und reichlich Schrullen.

Plakatives und Zwischenzeitiges, Bitteres und irgendwie wenig Freundliches und trotzdem mag man, also ich, diese Geschichte. Vielleicht weil das Leben ungebremst Schlitten fährt mit den Romanfiguren.

All das verpackt Lange-Müller in eine unterhaltsame und von leichter Hand erzählte Geschichte. Bissig wechseln immer wieder die Perspektiven, mal setzt eine helikopterartige Erzählstimme ein, dann berichtet Ida und gibt dann den Erzählstab an Manuela, die Tochter der Toten weiter. Einzig Ole bleibt eher stumm.

Manuela packt das Verhältnis zu ihrer Mutter auf den Tisch, die so viel lieber, wenn denn schon ein Kind sein musste, einen Sohn gehabt hätte. Ihr Mann hingegen vergötterte und verwöhnte sein Töchterchen, derweil Elvira versuchte sie “umzuformen”. Sie hielt ihre Haare kurz und sie dazu an, “Jungsdinge” zu tun. Schickte sie zum Spielen in den Matsch, verbot ihr Puppen, schenkte ihr stattdessen Spielzeugbagger und als ihr Mann viel zu früh bei einem Autounfall ums Leben kommt, ist ihr Manuela ausgeliefert.

Uns Lesenden offenbart sich nach und nach eine Mutter-Tochter-Beziehung der üblen Sorte. Ole wird, als Kleinkind schon, isoliert und versteckt, seine Mutter gibt ihn, der Dominanz der Oma wegen, an eben diese ab. Problem gelöst? Im Gegenteil. Ole verkümmert eingeschlossen in seiner Welt zusehends, sehr spät kommt er in die Pubertät und immer weniger mit sich zurecht und als er seine einzige Bezugsperson verliert, muss sich für ihn die Erde aufgetan haben.

Grausamkeit und Intoleranz schließt Katja Lange-Müller in ihren Roman ebenso ein, wie Ich-Bezogenheit. Es klopft und hämmert verzweifelt an innere Türen. Niemand öffnet. Derweil sie Fragen nach Schuld und Prägung aufwirft. Nach Mitgefühl und Empathie. Uns Lesenden überlässt sie das Antworten darauf.

Lange-Müllers dysfunktionales Theater kommt mit nur wenigen Akteuren aus. Als da wären (neben Elvira):

Ida, auch sie von ihrer Mutter ungeliebt, landet bei wechselnden Gönnern, die sie eine zeitlang finanziell aushalten. Sie, die schöne Frau zahlt stets mittels Körpereinsatz, bis sie am Ende abgelegt wird wie ein altes Paar Schuhe. Immer findet sich eine drallere oder jüngere, erst im Alter geht sie einer bezahlten Tätigkeit nach und wird Seniorenmodel.

Manuela, die Erbin, zickig wie die Pest, lebt von Bürgergeld, hat seit Jahren keinen Kontakt zu ihrer Mutter. Benimmt sich nach dem Todesfall wie die Prinzessin auf der sprichwörtlichen Erbse.

Ole. Ein junger Mann, eingehüllt wie in eine Blase. Die ihn auf Abstand hält zu allen und jedem. Unverstanden und im Grunde auch: Ungeliebt.

Eine Scheinverschwesterung, künstliche Brüste, eine Autopsie. Berechnung und Kalkül und dann kommt alles ganz anders.

Was ist wahr an dieser Geschichte und was nicht? Im Epilog nennt Lange-Müller sie ihr Prosadrama. Alles sei wahr, nur die handelnden Personen habe sie unkenntlich gemacht.

Was für eine traurige, tragische Geschichte das ist. Ein Kammerspiel, ein Trauerspiel, ein äußerst unterhaltsames und obendrein clever konstruiertes. Eines, das mit wenigen Seiten zurecht kommt und viel zwischen seine Zeilen stellt. Sogar Käferzeichnungen, weswegen so manch Lesender zeitweilig an Kafka denken mag.

Was habe ich den Kopf geschüttelt über diese Unsympathinnen und unser Ole, allein wie sie über ihn denken und sprechen, wie sie aufeinander schauen. Beziehungen sind hier bestenfalls angespannt und Ole, “der Bär mit dem Spatzenhirn”, wie Lange-Müller ihn nennt, bleibt wie ein geisterhafter Schatten im Hintergrund.

Aussenseiter, das sind im Grunde alle der hier auftretenden Protagonisten und nicht ohne Schuld. So fragt man sich beispielsweise: Hat Oma Elvira etwa die geistige Behinderung Oles mit zu vertreten?

Vieles bleibt offen, wie im echten Leben auch, das seine Geschichten nicht zu Ende erzählt.

Das Leben ist eben kein Ponyhof und keine Familie eine wie die aus der Rama-Werbung, würde eine liebe Freundin jetzt sagen …

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