Sommerwasserlinsen (Gerda Blees)

Wir wissen, der Tod gehört zum Leben und doch. Sobald er einen Fuß in unseres setzt, sind wir wie betäubt. Je älter wir werden dürfen, desto häufiger stehen wir an Grabrändern, beerdigen Freunde, die Eltern und haben Angst. Vor Entwurzelung. Schmerzen. Dem eigenen Sterben.

Fürchten uns davor, jemandem den wir lieben hilflos beim Leiden zusehen zu müssen. All das führt er uns vor Augen. Der Tod. Wenn wir ihm begegnen und die Umstände, die uns mit ihm Bekanntschaft machen lassen, sind so unterschiedlich wie die Anlässe seines Auftretens und oft genug unvorhersehbar. Von solchen Begegnungen erzählt uns hier eine Autorin, die eine Meisterin der Blickwechsel und der offenen Enden ist.

Sommerwasserlinsen von Gerda Blees

Ein grüner Schleier bedeckt das Wasser einer Gracht. Vollständig. An ihrem Rand kniet ein Junge. Versunken in sein Spiel mit einem Tischtennisball. Könnte man meinen. Meinen wir, die wir ihn beobachten. Die Autorin steht mit uns im Schatten, macht uns Lesende zu einer Schar namenloser Beobachter. Hat sie in Wir sind das Licht noch Gegenstände aus ihrer Geschichte zu erzählenden Zeugen gemacht, beteiligt sie diesmal uns. Das geht auch des Themas wegen durch Mark und Bein. Denn als das Kind kurze Zeit später seinem Ball hinterherspringt und der Greifarm einer Maschine sich dem Wehr nähert, durch dessen Gitter es seinen Arm gesteckt hat …

Ihr ahnt schon. Hier wird nicht zu Ende, nicht auserzählt. Die Endfäden hängen in der Luft, in unserem Kopf geht es dann weiter und rund und manchmal ist es auch der Anfang, der unverknüpft bleibt. Dann etwa, wenn Blees chronologisch rückwärts erzählt. Mit Kindesentführung, Scheidungskindern, Magersucht, Diabetes, Selbstverletzung, Suizid, Unfällen und Tötung konfrontiert sie uns und ihr Personal. Inhaltlich mag ich nicht mehr verraten, denn das Überraschungsmoment ist es, was diese Geschichten ebenfalls besonders macht. Das und die Vorkommnisse mit denen Gerda Blees spielt und mit unserer Erwartung. Mit ihr spielt sie auch.

Wer jetzt meint, das sei alles konstruiert und weit hergeholt, der muss nur eine Zeitung aufschlagen. Das Leben geht Wege, Menschen tun Dinge oder unterlassen sie, die wir uns oft mit unserem Wertekodex, so wie wir leben, nicht einmal vorstellen wollen und doch gibt es sie. 

Gerda Blees bewertet dabei nicht, scheidet nicht Recht von Unrecht. Sie beobachtet und das sehr genau und aus Blickwinkeln, die wir sonst nicht einnehmen. Großes Erzählkino auf kleinstem Raum ist das und ich feiere es sehr. Kann ich mich selbst doch nie kurzfassen.

Eingefasst ist diese Taschenbuchausgabe in eine auffaltbare feine Kartonage und das künstlerisch stimmig gestaltete Covermotiv umrundet die Geschichten so einmal vollständig. Wie gemacht ist das, um sich oder anderen damit ein Geschenk zu machen und keine Angst, Gerda Blees versteht es auch schweren Themen eine Form zu geben, die dazu einlädt sich damit zu beschäftigen.

Gerda Blees, geboren 1985, studierte Bildende Kunst in Amsterdam und veröffentlichte 2017 erstmals eine Kurzgeschichtensammlung, 2018 folgte ein Gedichtband und 2021 ihr mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichneter Debüt-Roman Wir sind das Licht habe ich 2022 in der Hörbuch-Fassung erlebt. Über das Cover am Ende des Beitrags führe ich Euch noch einmal dorthin zurück wenn Ihr mögt. Ein Chor von Stimmen liest, darunter eine grandiose Claudia Michelsen. Plot und Lesung, insgesamt fünfundzwanzig ungewöhnliche Perspektivwechsel, kriechen einem unter die Haut.

Unter die Haut kriechen einem auch diese zehn Kurzgeschichten von ihr. Sie managt darin das Ungreifbare, das sich auf leisen Sohlen in jeder einzelnen Geschichte anschleicht. Manchmal meint man einen Hauch im Nacken zu spüren, die feinen Härchen stellen sich dann auf, man verbleibt in banger Erwartung dessen was gleich passieren muss. Dann kommt es anders oder gar nicht. Ein anderes Mal ist sofort klar was geschieht und dann stellt Blees Fragen zwischen den Zeilen und wieder ist nichts so klar wie es scheint.

Fassungslos bin ich ihr durch diese Geschichten Sammlung gefolgt. Habe mir Unglaubliches erlesen, mit der Hand vor dem Mund und zumeist angehaltenem Atem. Diese Dichte von Grenzerfahrungen die sie da webt, wie sie Menschen in den unterschiedlichsten Situationen erfasst und in aller Kürze diese bewegenden Lebensszenen nachzeichnet hat mich tief beeindruckt. Das ihre Geschichten mich so anfassen, schreibe ich zu einem großen Teil auch ihr zu:

Lisa Mensing hat sowohl bei Wir sind das Licht als auch bei Sommerwasserlinsen ihre Übersetzungsmagie gewirkt und uns mit diesen wunderschönen und feinfühligen deutschen Textfassungen beschenkt. Die Übersetzung von Gaea Schoeters Das Geschenk und die von Trophäe gehen übrigens auch auf ihr Konto. Mensing wurde ihrerseits für ihr Schaffen ausgezeichnet. 2024 erhielt sie den Förderpreis des Literaturpreises der Kunststiftung NRW – Straelener Übersetzerpreis für ihre Übersetzung von Caro Van Thuynes Birkenschwester. Liebe Lisa, Danke für soviel!

Stilistisch sind diese Kurzgeschichten, jede für sich genommen, ein kleines Meisterwerk, jede packt Blees anders an, rollt ihr Erzählen neu auf, weil es genau das braucht. Schafft so ein Kaleidoskop durch das wir abgründiges, menschliches und unmenschliches betrachten können. Blees verstrickt uns, dass sie ihre Lesenden außen vor lässt, ist halt nicht ihr Ding. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man eine Geschichte von ihr aufschlägt und genau dafür liebe ich sie. Sie packt mich und lässt mich nicht mehr los, wie sonst niemand wühlt sie mich auf und beschäftigt mich auch noch lange nach dem Lesen. Wenn ich am Ende dieses Jahres zurückblicken werde und meine Autorinnen, Autoren des Jahres auswähle, hat sie ihren Platz jetzt schon sicher.

Außergewöhnlich und so bemerkenswert, so habe ich die Art und Weise empfunden, mit der sie sich einer solchen Thematik nähert. Die Worte gehen mir jetzt aus zu beschreiben, was das mit mir gemacht hat. Bei Blees fühle ich schneller als ich verstehe. So mag ich lesen! Danke dafür, liebe Gerda Blees. Dankschön liebes Team des Maro Verlages für dieses sehr gewünschte Besprechungsexemplar. Ich freue mich sehr auf alles was da noch kommt!

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