Genau dafür liebe ich eine Geschichte, wenn sie meinen Blick hernimmt und ihn nach innen richtet. Wenn ich mich erinnern darf, an Augenblicke die mir etwas bedeutet haben. Wenn plötzlich Bilder aufsteigen die ich längst vergessen geglaubt hatte. Bilder aus einem Sommer meiner Kindheit, ich mit einem Einweckglas voller Kaulquappen auf dem Gepäckträger meines Fahrrads. Daran wie aus winzigen schwarzen Fischen Frösche wurden die nicht zu halten waren. An eine Vielzahl bunter Schmetterlinge am Wegesrand und an die Haselmaus, die mein Vater vor dem Feuer gerettet und mit nach Hause gebracht hatte. Erinnerungen daran, dass der Wald mir immer schon ein Freund gewesen ist, ein Kraftort, eine Zuflucht. So wie ihr …
“Auch hier gibt es Schatten, aber die sind grün. Das hier ist kein Ort für Menschen. Hierher kommen die Kleinsten, um zu sterben oder um zu wachsen: Vögel, Salamander, Fliegen und Falter. Hier ist Frieden.”
Textzitat Malin C. M. Rønning aus Skabelon
Skabelon von Malin C. M. Rønning
“Man sieht nur mit dem Herzen gut”, sagt der kleine Prinz und die Heldin dieser Geschichte ist zwar alles andere als eine Prinzessin, aber genau das hat sie mit dem Prinzen gemeinsam. Urd heißt sie und sie wächst unter sieben Geschwistern auf, lebt mit ihrer Familie in bitterer Armut im und mit dem Wald. Noch nicht allzu oft bin ich einer Figur wie ihr begegnet und auch die Stimme ihrer Autorin ist eine ganz besondere. Klar und schnörkellos entfaltet sie in der Übersetzung von Andreas Donat eine unglaubliche Wucht, um gleich im nächsten Satz zart und wärmend zu sein. Ich bemerke wie mir Sätze, die sie wie belangslos im Weg stehen lässt, die Augenbrauen hochschnellen lassen. Wie ich mich frage, was hat der da gerade gesagt?
Wenn Urds Mutter etwa mit dem achten Kind schwanger ist und sagt, der Arzt meine, sie dürfe jetzt keine Kinder mehr bekommen und ihr Mann antwortet – “dann bekomm halt keine” … Es bedarf keiner weiteren Worte um diese Ehe zu beschreiben, denke ich und erlebe den Vater, der in einem umgebauten Bus, nicht mit der Familie im Haus lebt, gemeinsam mit seiner Tochter auch anders. Wie er ihr dabei hilft Löcher in die Deckel verschiedenster Behältnisse zu bohren, damit sie darin Schnecken, Käfer und andere Insekten sammeln kann. Wie sie ihm sein Werkzeug durcheinander wirft und er nicht die Geduld verliert, ihren begeisterten Ausführungen aber auch nicht zuhört und sie einfach stehen lässt.
In dieser Wortkargheit und darum kämpfend unter den vielen Geschwistern gesehen zu werden lebt es sich nicht leicht. Auch eigen geglaubtes, und sei es nur ein Kuscheltier, gehört einem nie nur allein. Ihre Zärtlichkeit verteilt die Mutter eher ungleich, ein schreiendes Neugeborenes wird reichlich bedacht, die größeren Kinder gehen da eher leer aus.
“Wenn ich Zuhause an einem Bruder oder einer Schwester vorbeigehe, darf ich nicht lächeln und mich auf keinen Fall umdrehen. Denn es ist, als würde mein Körper wachsen, wenn der andere etwas von mir haben will und ich es für mich behalten und selbst darüber entscheiden kann, wann ich es hergeben möchte – einen Blick, ein Wort.”
Textzitat Malin C. M. Rønning aus Skabelon
Malin C. M. Rønning, geboren 1985 in Porsgrunn/Norwegen, lebt heute in Oslo und legt mit Skabelon einen Debütroman vor, der es faustdick zwischen den Deckeln hat. Nicht nur weil man über seinen Titel schon rätselt, gleich drei Wortbedeutungen bietet das Wörterbuch der Norwegischen Akademie für Literatur und Sprache an, C. M. Rønning spielt in seinem Inneren auch mit der Vieldeutigkeit und schafft es mich zu überraschen. Ihre kleine Heldin fand ich einfach nur bezaubernd und mindestens so outstanding wie Pippilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf. Die sich die großartige, von mir vielgeliebte Astrid Lindgren ausgedacht hat, auch eine nordische Autorin, vielleicht bringen eben genau diese Landschaften auch solche Figuren hervor?
Urd ist sechs in dem Sommer in dem das Baby kommt und sie dem Dachs, der Nachts ums Haus streicht, Fleisch versprochen hat. In dem sie Regenwürmer sammelt, sie im Haus verteilt, noch weiß ich nicht warum. Mit Gummistiefeln, Regenjacke und Taschenlampe, deren Schein zuckend vor ihr über den Waldboden huscht, verschwindet sie in den Nächten, ich auf Zehenspitzen hinterher. Der erste Schultag ist nicht mehr weit und mit ihm Lehrer und Kinder, die sich längst ein Bild von ihr und ihrer Familie gemacht haben …
Sie wissen nicht, das dort wo Urd lebt auch der Hunger wohnt. Jeden Tag. Das die Schränke immer leer sind, bis auf trockenes Brot vielleicht, ein paar Zwiebeln und Haferflocken. Die Wärme einer Mahlzeit fehlt oft. Genauso wie der Vater. All das wissen sie nicht. Deshalb verstehen sie auch nicht was sie sieht, hört und fühlt. Die kluge, feinfühlige, kleine Urd! Durch ihre Augen die Welt sehen, bedeutet sie neu zu erkennen, in den kleinen Dingen, in dem was wesentlich ist. Davon haben sie nicht einmal eine Ahnung.
“Die Tage haben Namen und die Uhr ist rund, denn die Zeit kehrt immer wieder zu sich selbst zurück. Jede Woche wird es Samstag, jedes Jahr wird es wieder Mai.”
Textzitat Malin C. M. Rønning aus Skabelon
Das erste Mal benutzt die Mutter das schöne Wort, das Urd nicht kennt, als die fremde Frau zu Besuch ist. Am Abend gab es ein warmes Essen! und alle Geschwister und die Mutter saßen in der Nacht im Wohnzimmer mit ihr, nur Urd hatten sie nicht geweckt. Als hätten sie sie nicht dabei haben wollen. Wir wissen nicht, welche Bedeutung des Wortes “Skabelon” ihre Mutter da in den Mund genommen hat, als sie schräg von oben auf die aufgewachte kleine Urd hinunter sieht, und ich hoffe so sehr, sie verwendet es nicht abwertend und meint “Missgeburt”, denn den Tonfall mit dem sie spricht, hören wir ja nicht ….
Der Kümmerer der Familie ist Ask, der Älteste, Urds großer Bruder. Er verrät Ihnen wo sie etwas zu Essen finden, wenn der Hunger zu groß wird, er kennt sie die Vorratsverstecke der Nachbarn. Macht sie zu kleinen Einbrechern dafür. Macht sie zu Dieben, für Verbandszeug und Jod, aus den Schulbeständen. Damit sie zurechtkommen, auch ohne die Eltern. Er ist es auch, der Ira ins Krankenhaus bringt, als sie aus dem Fieber nicht mehr aufwacht. Die Mutter war teilnahmslos geblieben, als käme es auf ein Kind nicht an.
Offene Fragen und lose Fäden. Das Leben hat nicht immer eine Antwort oder es gibt sie uns nicht. Es kennt Orte an die es uns nicht lässt und solche die es ganz geheim hält. Es gibt uns Rätsel auf und reibt sich die Hände, wenn wir aufgeben. Stellt uns nicht selten ein Herzschlagfinale. Urd erlebt mehr als eines, wir begleiten sie bis sie dreizehn ist.
Sätze, die hart sind wie ein Kanten Brot, an denen man lange kaut schreibt diese Autorin. Kurze Sätze, die weich werden, wenn man sie im Mund behält, ihrem Geschmack nachspürt. Sätze, so zart wie ein Schmetterlingsflügel. Sätze, die bleiben.
So passend hat der Karl Rauch Verlag dazu die Ausstattung dieses Buches gewählt, sie hat mich bereits beim ersten Anfassen begeistert. Wie Baumrinde fühlt es sich in meinen Händen an, umschwirrt ist sein Cover von unzähligen Glühwürmchen, immer wieder streichen meine Finger mein Lesen über die zarten Riffelungen des Einbandes und wenn ich es zur Seite lege, muss meine Hand ihm streichelnd “bis bald” sagen.
Während ich lesend pausiere schwärmen in der Geschichte Mücken aus, entdeckt Urd Vogelpfeile am Himmel, Elche, die ihre Hufe in Moorwasser baden, den Ranzen als Kissen, den Kopf in den Wolken.
Diese Eltern, was von dem, dass sie ihren Kindern mit ihrer Gleichgültigkeit antun ist Absicht und was einfach nur ignorant? Ich schwanke zwischen Mitgefühl und brennendem Zorn. Diese Andeutungen! Sie lassen mir viel Platz das Schlimmste anzunehmen. Die ganze Zeit. Ich flüchte mit Urd in ihre Träume. Die seltsam sind. Aufwühlend. Bestaune ihre Fantasie. Schließe sie in mein Herz. Dort bleibt sie. Bis zum Schluß und darüber hinaus.
Was für eine düstere, melancholische Geschichte. Poetisch, außergewöhnlich und bedrückend schön. Was für ein Debüt!
Mein Dank geht an den Karl Rauch Verlag und der Agentur Politycki & Partner für das Rezensionsexemplar.
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