Wie geht man damit um, wenn die Liebe und Wärme der Mutter fehlt? Wenn diese abhanden kommt, man als undankbar abgestempelt und weggeschoben wird. Du, hast doch das große Los gezogen, hast doch alles. Wenn aber die Nähe fehlt, ist alles nichts.
Zu lieben muss man lernen, es ist wunderbar, wenn die eigenen Eltern dafür die Lehrenden sein können und es ist schwer wenn nicht.
Trost suchen und finden lässt sich in Büchern, in der Literatur und ganz besonders in Gedichten. In denen einer ganz bestimmten Dichterin findet sie sich, diese Protagonistin, in denen von Mascha Kaléko.
Von ihr fühlt sie sich gesehen, verstanden, beim Lesen ihrer Verse empfindet sie Zuversicht, eine die ihr Alltag und Leben nicht allzu häufig anbieten können. Wie kann das gehen, wo sie einander doch gar nicht kennen? Was gründet eine solche Bindung?
Lyrik macht genau das auch mit mir, spricht mir aus der Seele und wenn die Heldin dieser Geschichte davon erzählt, dass sich eine Buchhandlung nur dann echt anfühlt wenn sie so eingerichtet ist, dass sie in jedem Jahrhundert stehen kann und das Kopfsteinpflaster vor der Tür liegen muss, dann bin ich ganz bei ihr.
Unsere Liebe und Verehrung für Mascha Kaléko teile ich mit ihr, obwohl mir ist an manchen Tagen mehr nach Hermann Hesse zumute, dann brauche ich genau seine Melancholie, seinen Weltschmerz, um weiterzumachen. Oder brauche die Klugheit und Weitsicht von Erich Kästner und manchmal auch die Gegenwärtigkeit und Zartheit einer Simone Scharbert oder Marica Bodrožić um durchzuhalten, die mir mit ihren poetischen Texten helfen, um in meinem Alltag zu funktionieren.
Kraftspender sind sie allesamt, sie bieten mir mit ihren Gedichten einen Fluchtpunkt, einen Rückzugsort an. Wenn ihre Worte in mir klingen, macht die Angst Platz, dann kann ich durchatmen. Für eine Weile.
Rezept
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
Wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
Und der Anzug im Schrank,
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
Wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.
Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muf, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
Sieh ihm still ins Gesicht,
Es ist vergänglich wie Glück.
...
Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder
Sie sind lang schon verzeichnet
Im grossen Plan:
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten
Mascha Kaléko
Bei Sarah Lorenz richtet sich die Erzählerin mit direkter Rede an Ihre Lieblingsdichterin, wie an eine Freundin. Der Roman ist aufgebaut wie ein Zwiegespräch mit ihr, nur die Antworten, die bleiben eben aus, es sei denn, die Fragende gibt sie sich selbst, leitet sie ab, aus dem was sie in und zwischen Kalékos Versen findet und das ist eine ganze Menge.
Wir stöbern mit ihr in Zürich durch eine Buchhandlung, eben erst hat sie in der Stadt Maschas Grab besucht, bestaunen eine gebundene Ausgabe von Kalékos lyrischem Stenogrammheft. Erfahren, von Elisa Leben im Heim als Jugendliche, wie es sie als Obdachlose auf die Kölner Domplatte zieht, sie als Punkerin rebelliert. Vom Schnorren, Drogen, Dosensuppe, Tabak und Dosenbier, mit letzterem konnte man sich auch hervorragend dem Alltag entziehen.
Die dauerwütende Systemsprengerin, zu der sie nach der Abkehr der Mutter mutierte, mit ihr konnte man auch im Heim nicht umgehen. Sie wussten nicht, dass die Angst bei ihr Dauergast war, viel später erst, vielleicht zu spät, verschrieb man ihr Antidepressiva. Sich selbst immer wieder verletzend, mit sechzehn in einer eigenen Wohnung nebst Betreuerin landend, schlägt sich Elisa durch, nimmt Kontakt zum Vater auf. Mit dem sie sich wieder stärker verbindet.
Sechzehn war auch ihre Mutter gewesen als sie Elisa zur Welt brachte und ihr Vater, der war damals zehn Jahre älter. Das Geld war bei beiden beständig knapp gewesen, die Auffassung wie man sich als Eltern zu kümmern hatte weit auseinander und nach zwei Jahren Mutter-Vater-Kind verließ die Mutter ihn.
Versiffte WGs, Freundinnen ohne Zahl, das permanente Teilen dessen was Elisa fühlt. Das muss man wollen, will man mit ihr leben.
Die erste Liebe. Haltlos, heillos, ungestüm. Er ist älter und nicht gut für sie. Erst später findet sie eine neue, eine, die soviel besser ist, aber auch die wird auf die Probe gestellt.
Pathos und Liebe bedingen einander, meint unsere Heldin. Mich hat der ihre nicht gestört. Im Gegenteil es hat gepasst. Obwohl, das ganz große Drama ist voll ihr Ding und meins eigentlich nicht.
Eine Leerstelle bleibt, nach dem Tod des Vaters. Viele Jahre später. Wir vermissen erst, wenn die Lücke da ist. Müssen leben mit den Lebenslücken, die Menschen hinterlassen, deren Ähnlichkeit mit uns sich in unsere Gesichter geschrieben hat, die wir geerbt haben.
Man, ich, höre ihr gerne zu. Sehr gern sogar. Entdecke Gemeinsamkeiten wie Trennendes. Ein ums andere Mal überschlägt sie sich und gefühlt lässt sich nichts aus.
Wenn ich etwas kritisch anzumerken hätte, dann das doch sehr ausgeprägte Gendern im Text. Da sind so einige Doppelpunkte gesetzt und ich stelle mir einmal mehr die Frage, was das mit unserer Sprache macht, ganz besonders in diesem direkten Kontrast zu den eingestreuten und poetisch ausgefeilten Zeilen von Mascha Kaléko. Mir macht das ein Bauchgrummeln und ich glaube auch nicht, dass diese Art des Textens nachhaltig zu einer Veränderung im gesellschaftlichen Umgang führen kann und wird. Aber für ein permanentes Holpern und Stolpern, für Vollbremsungen in Absätzen, die fließen sollen, dafür sorgt es. Immer.
Also, wer schreibt denn da jetzt eigentlich und so? Fragt ihr:
Sarah Lorenz, geboren 1984 in Eckernförde, lebt auf St. Pauli. Dies ist der Debütroman der gelernten Buchhändlerin, die seit 2023 in der taz die Kolumne PMS-Ultras veröffentlicht und im Internet unter ihrem Pseudonym Buchi Schnubbel allabendlich ihre rund 14.000 Follower zu Bett bringt.
Als modern, gegenwärtig und gleichzeitig ein klein wenig nostalgisch auch, so habe ich diesen Roman von ihr gelesen und gemocht. Insbesondere für den intensiven Bezug, den sie zu Kaléko und ihren Gedichten herstellt. Dafür wie sie aufzeigt, wie notwendig und lebensbegleitend Lyrik sein kann und das Gedichte nichts Verstaubtes sind, was man lediglich in der Schule und das gezwungenermaßen, auswendig lernen muss.
Jugendwohngruppen, eine Tigerenten-Wärmflasche und Faust auf Auge. Körperlich nicht sinnbildlich.
Kaffee in der Bahnhofsmission und eine Notschlafstelle. Heroin klingt nach einer Verlockung, eine neue Christiane F. werden auch.
In dieser Zeit auf der Domplatte war Elisa Anerkennung so wichtig und sie ließ es zu, dass sich Männer an ihr bedienten. Erkennt die Gewalt nicht, die Übergriffigkeit hält sie für normal. Erträgt die Gier, Hände, die überall sind. Kommt zu Fall, steht wieder auf. Immer wieder.
Überbordend erzählt Sarah Lorenz, so wie auch sie nicht zu bremsen ist, ihre Elisa, die allem trotzt und durchhält. Die ihrem Leben alle Zitronen abnimmt um was draus zu machen. Ganz schön viel ist das auch, was sich auf diesen Buchseiten tummelt und erstaunlich, wie zielgruppenübergreifend diese Geschichte funktioniert, wahrscheinlich ist Maschas Anteil daran kein geringer.
Nicht alle Kluften lassen sich überbrücken, es gibt immer mehr als nur eine Wahrheit und schämen muss man, Frau sich nicht, wenn sie sensibel ist, verletzlich. Nicht alles muss man hinnehmen, auch nicht, wenn es von der eigenen Mutter kommt. Überhaupt ist Familie so eine Sache. War es immer. Für die Einen funktioniert sie grossartig und für andere? Nicht. So ist das eben auch.
Mascha Kalékos Gedichte verschränken ihre Finger wie selbstverständlich mit diesen Erkenntnissen, man braucht für sie keine Gebrauchsanleitung, sie öffnen sich freiwillig, sind zeitlos und bleiben es und wie sehr dieser Text das Lesen als Grundbedürfnis feiert, das feiere ich. Auch. Er spricht mir damit tief aus meiner Leseseele.
Wer fühlen will muss hören, oder kann in diesem Fall auch das tun. Eine sehr empfehlenswerte Hörbuch-Fassung wurde eingelesen von Inka Löwendorf, die das sehr authentisch und ausgesprochen empathisch getan hat.
Schreibe den ersten Kommentar