Sonntag, 07.04.2019
Am Ende der Geduld war die Jugendrichterin Kirsten Heisig 2010. Man fand sie, nachdem sie nicht zum Dienst erschienen war erhängt im Tegeler Forst. Ihr Tod löste einen Aufschrei, wilde Spekulationen und eine strikte staatsanwaltschaftlich angeordnete Nachrichtensperre aus, deren Aufhebung der Journalist Gerhard Wisnewski schließlich gerichtlich erstritt. Ihr Fall wurde offiziell unter “öffentlichem Suizid” abgeheftet.
Eine bis heute unbewiesene Theorie lautet hingegen, dass es ihre Haltung war, ihre Unnachgiebigkeit gegenüber straffällig gewordenen Jugendlichen, die sie das Leben gekostet hatte. Als irritierend wird in diesem Zusammenhang gewertet, dass ihr Hund offenbar zeitnah zu ihr getötet worden war …
Kirsten Heisig ging es nicht um Einmischung, ihr war es wichtig in ihrem Bezirk selbst etwas zu tun, sie ging auf die Straße in Berlin-Neukölln. Nicht um zu demonstrieren, sondern sie suchte den direkten Kontakt insbesondere um sich mit kriminellen “Clan-Novizen” auseinander zusetzen. Sie wollte verhindern, das Jugendliche nach kleineren Delikten zu Schwellentätern wurden. Eckte an und doch wurde auf ihre Initiative hin ein Konzept, das Neuköllner Modell, das u.a. auf vereinfachte Jugendstrafverfahren setzte im Juni 2010, also kurz vor ihrem Tod, in ganz Berlin umgesetzt … Ihr posthum erschienenes Buch Das Ende der Geduld, setzte sich mehrere Monate auf der Spiegel-Bestenliste fest.
Die Autorin Simone Buchholz greift dieses Thema, organisierte Kriminalität durch Clan-Familien, fast zehn Jahre nach Heisigs Tod, in ihrem aktuellen, in diesem Jahr mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Roman Mexicoring auf.
In ihrem Bremen und in Hamburg werden, Kinder, Söhne, bereits lange vor der Volljährigkeit in das Family-Business eingearbeitet, die Schulpflicht ignorierend …
“Bremen braucht nicht mehr Polizei”, sagt Rocktäschel, und zeigt dem Barmann an, dass wir gern noch vier Wodka hätten.” Bremen braucht Batman”. (Textzitat)
Bremen brennt! Hamburg brennt! Als Anzündhilfe dienen Autos, als Treibstoff Schutzgelderpressung, Drogendeals, Diebstahl, Raubüberfälle, schwere Körperverletzung und Auftragsmorde.
So auch an diesem Morgen, es geht um einen ausgebrannten Fiat. Unausgeschlafen und unaufgeräumt erreicht die ermittelnde Staatsanwältin Chastity Riley den Tatort am Mexicoring B13, im Hamburger Stadtteil Winterhude, wo sich ein Notarzt noch an einem jungen Mann abarbeitet.
Der Patient schafft es noch lebend in die Klinik, aber nicht mehr lebend hinaus. Eigentlich grenzte auch das schon an ein Wunder, er hatte nämlich im dem verriegelt und verrammelten Auto noch drin gesessen, als er angezündet worden war. Mindestens zehn Minuten im Rauch, das ohne Handy, dafür aber mit reichlich k.o. Tropfen im Blut, wie die Autopsie später ergeben sollte …
Simone Buchholz. Über sie braucht man Krimi-Fans nichts mehr zu erzählen. Bereits dreimal hat sie den ersten Platz beim Deutschen Krimipreis abgeräumt, und ich, ich bin erst mit diesem Band 8 in ihre Reihe um die Deutsch-Amerikanerin Chastity Riley eingestiegen. Eindeutig mein Fehler! Was habe ich offenbar bis hierher verpaßt … Egal – lese ich halt jetzt eben diese Reihe von hinten nach vorne.
Ihr Thema könnte aktueller und im besten Wortsinn brenzliger nicht sein. Die Bremer und die Berliner Unterwelt – fest in der Hand libanesischer Clans. Ringsum Verachtung und Hilflosigkeit, dort wo selbst eingesetzte Friedensrichter über Krieg und Frieden zwischen Familien entscheiden, die deutsche Gesetzgebung als nicht bindend erachtet wird.
Hier herrscht eine Ohnmacht auf beiden Seiten, die mich so dermaßen aufgewühlt hat, wie es schon lange kein Buch mehr geschafft hat. Laut schreien hätte ich an so mancher Stelle mögen! Was habe ich die Hände gerungen!
Eine Frage der Ehre und Fragen die nicht gestellt werden dürfen. Besonders bei Kindern, bei Mädchen und Frauen beantwortet man sie mit Schlägen, solange bis die Betroffenen verstummen, auch wenn sie noch atmen. Auf offener Straße lässt man blutig geprügelte Schwestern zurück …
Wenn hier ein Krieg ausgerufen wird, dann hat man zu kämpfen. Wie Abitur und studieren? Na, also gut, wird er halt Anwalt, das kann man auch gebrauchen. Oh Mann!
Buchholz nimmt mein Gesicht in beide Hände, als wolle sie sagen, jetzt pass mal gut auf: Dann sticht sie mir mit ihren kurzen Stakatosätzen in die Haut als wolle sie mir ein Tattoo stechen. Ritzt mir ihre Figuren, ihre Männer, ihre Frauen ins Herz …
Verlorene Söhne, verbrannte Träume, Sehnsuchtsziele und Mexico! Warum nicht nach Mexico fliehen, vor Verfolgung, Gewalt und vor diesem grenzenlosen Hass? Romeo und Julia heißen hier Aliza und Nouri und man hofft so auf ein Happy End …
Ihre Hauptfigur Riley hat es auch gewaltig aus der Bahn geworfen, sie eiert ganz schön unrund durch die Gegend. Kann nicht mehr schlafen, hat ein offensichtliches Problem mit Alkohol und wohl auch mit ihrer Körperhygiene. Sie kämpft mit Dämonen die ich noch nicht kenne und es macht nichts, irgendwie ist sie mir dennoch von Beginn an seltsam vertraut.
Ein Gericht hat sie schon ewig nicht mehr von innen gesehen, von ihrer Chefin erhält sie als Staatsanwältin, die am liebsten eh mit der Polizei draußen vor Ort ist offenbar immer die Fälle, die so kaputt sind wie sie selbst. Nicht das ihr das leicht fällt, aber anders geht es irgendwie auch nicht.
“Ich laufe weiter durch die Stadt, kann mich nicht entscheiden, wo ich in ein Taxi steigen soll, und die Stadt tut so, als wäre das okay für sie, als wäre es in Ordnung, dass ich einfach so in ihr herumlaufe, ohne genau zu wissen, wohin eigentlich, aber manchmal traue ich ihr nicht.” (Textzitat)
Verletzt, verwundet, dienstuntauglich. Ein Anschlag der Albaner-Mafia hat einem Kollegen von Riley den rechten Arm abgerissen und Bilder bei ihr und dem Team eingebrannt die sich nicht mehr löschen lassen.
Dabei gibt es hier so einiges zu meistern, traumatisiert sein, dafür ist keine Zeit. Mauern aus Schweigen wollen durchbrochen werden, aber bitte mit Empathie, sonst macht hier wirklich niemand den Mund auf.
Vorsicht! Dieser Krimi hat Wucht und Wehmut. Was man hier erfährt will man gar nicht wissen, kann aber auch nicht davon lassen. Erschüttert, ja geschockt bin ich, beginne zu verstehen …
Damit ich mich aufrappele schüttet Buchholz mir einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht, ich habe Schnappatmung und bleibe dran, bis zum bitteren Ende …
“Mir läuft eine Erinnerung über den Weg. Ich schicke sie in die Wüste”. (Textzitat)
Krimimäßig habe ich gerade mein Jahres-Highlight gelesen. Der Deutsche Krimipreis?! Mehr als verdient würde ich sagen, dass obwohl ich die Mitbewerber nicht kenne.
Hier hat für mich alles gestimmt. Reichlich Lokalkolorit, viel Hamburg, vor allem aus den Bars von St. Pauli, eine Sprache die mich schlicht vom Hocker gehauen hat. Zumeist kurz, knapp und doch geschliffen. Aber Vorsicht, an den Schliffkanten hat es noch scharfe Ecken. Man reibt sich an diesen Sätzen und liebt sie.
Ihre Kapitelüberschriften sind der Hammer! Figuren die einen anpacken, bis in die Nebenrollen excellent gezeichnet. Brisanz, Aktualität und den Finger auf die sprichwörtliche Wunde einer gescheiterten Integrationspolitik gelegt. Dreimal Wow, Frau Buchholz! Sie haben einen neuen Fan und Riley natürlich auch …
Ich entdecke gerade dieses Genre für mich neu und es macht mir wirklich Freude. Was ich bisher ausgesucht habe, hatte immer einen “romanhaften”, anspruchsvollen Mehrwert. Diesen Mix finde ich in der Tat sehr spannend. LG von Petra
Du scheinst offensichtlich im Krimi-Fieber zu sein…😉