Mercy Seat (Elizabeth H. Winthrop)

Sonntag 17.03.2019

Was für ein Jubiläum das Jahr 2015 brachte! Seit nunmehr 125 Jahren gibt es ihn jetzt – den elektrischen Stuhl. Erfunden 1881 von dem Zahnarzt Dr. Alfred Southwick, der die Todesstrafe durch die Giftspritze, die oftmals einen mehr als 30minütigen Todeskampf zur Folge hatte “humaner” gestalten wollte, und und den ein Verkehrsunfall auf offener Straße, mit einem freien Stromkabel, auf die Idee mittels eines Stromschlages zu töten brachte.

1890 setzte dann der Glühbirnen-Pionier Thomas Edison die Idee von Zahnarzt Southwick in die Tat um und der erste Todeskandidat der in diesem Jahr auf dem Stuhl starb war William Kemmler. Diese erste Hinrichtung, bei der zahlreiche Schaulustige und Pressevertreter anwesend waren verlief allerdings alles andere als “reibungslos”. Der Deliquent überlebte die ersten verabreichten Stromschläge. Bei der zweiten Gabe sei sein Körper dann in Flammen aufgegangen.

Nichts desto trotz führte über die Hälfte der US-Bundesstaaten im 20. Jahrhundert diese Hinrichtungsmethode ein. Den Stühlen wurden z.T. sogar Spitznamen gegeben, wie “Old Sparky (Alter Funke)”, “Old Smoke” (Alter Rauch) oder “Gruesome Gertie” (Grausame Gertie) …

Mercy Seat (Elizabeth H. Winthrop)

Louisiana, in den 1940er Jahren.

Er hatte sich den Stuhl anders vorgestellt, mit mehr Metall und Knöpfen dran vielleicht – mit seiner globigen, hölzernen, zweckmäßigen Schlichtheit, die aus jedem einen Zwerg machte, der sich darauf setzte, wirkte er bedrohlich und er zwang Lanes Gedanken in eine Richtung in die er sie nicht haben wollte. Er wandte sich ab von der Ladefläche des Trucks auf der verstaut war.

“An den Stellen, an denen die Fußknöchel festgebunden werden, ist das Holz versengt. Die Armlehnen sind vor vom Angstschweiß der Hände, die sie umklammert haben dunkel verfärbt. Oben an der Lehne ist eine Metallkrone festgeschraubt, an der Rückseite des Stuhles hängt eine schwarze Kapuze, um das Gesicht zu verhüllen, das keiner sehen soll”. (Textzitat)

Will, war erfüllt von tiefer Reue, was hat er seinen Eltern nur angetan? Ja, er verdiente den Tod, ohne sein Tun wäre Grace jetzt nicht tot, die Umstände spielten da keine Rolle mehr, auch das es für ihn Liebe gewesen war und er sich für diese Aussage im Zeugenstand hatte verlachen lassen müssen. Die Taubheit die er fühlt, wird nur durch Wellen aus Trauer, Angst und Schuldgefühlen unterbrochen. Als jetzt der Sheriff und ein Mithäftling Wills Zelle betraten, stand er am Fenster und schaute hinaus. Dies würde das letzte Mal sein, das er die Sonne untergehen sah. Seine Zelle kannte er nach den acht Monaten Haft, in denen er jetzt seit seiner Verurteilung hier bei Hunger, Hitze und Langeweile einsaß inzwischen so genau, dass er wuße das achtzehn Gitterstäbe die Zellentür zerteilten, zehn Gitterstäbe das Fenster, sechs Wasserflecken hatte es an der Decke und einhundertzwanzig Fliesen waren auf dem Boden verlegt. 

Sie waren gekommen um ihm den Schädel zu rasieren. Damit er gereinigt vor den Herrn treten könne, so der Mithäftling. Damit es auch schnell gehe, mit dem Strom, so der Sheriff …

Elizabeth Hartley Winthrop, geb. 1979, lebt mit Familie in Massachusetts, studiert hat sie englische und amerikanische Literatur und bislang drei Romane neben Erzählungen veröffentlicht.

Was für eine Geschichte! Schon nach den ersten Sätzen wird man mit Haut und Haaren von ihr verschlungen, um am Ende mit klopfendem Herzen und zitternd wieder ausgespuckt zu werden, und daran ist nicht nur das WAS hier passiert Schuld, das weiß man ja schon, glaubt man zumindest, sondern auch diese unglaubliche Erzählform mit ihren Multi-Perspektiv-Wechseln, ihren kurzen prägnanten Kapiteln. Dazwischen fährt die Autorin mit einem Schlitten auf der Klaviatur der Emotionen, man hasst und liebt, hadert und zweifelt, hat Gewissensbisse, die kaum auszuhalten sind, ist wie magisch angezogen und abgeschreckt zugleich, mal wütend, mal schicksalsergeben.

Nicht nur eine extreme, fiebrige Hitze liegt auf diesem Tag der Haupthandlung, sondern auch eine bleierne, lähmende Schwere, die die Konsequenz dieses Urteils hervorgerufen hat und die viele niederdrückt, die sich mit der Endgültigkeit, mit dem Richtig und Falsch dieser Entscheidung beschäftigen.

Wie von Zauberhand verbindet die Autorin ihre Figuren miteinander, die zunächst keinerlei Berührung mit einander hatten, macht sie zu Schicksalsgefährten. Ein weiterer fabelhafter Schachzug von Winthrop.

Da haben wir einmal den Vater des Verurteilten, der mit seinem besten Anzug bekleidet bei der Bank vorgesprochen hatte und um ein Darlehen von fünfundachtzig Dollar zu erbitten, für den Grabstein seines Sohnes. Mit ihm auf dem Mauleselkarren ist er jetzt unterwegs und der alte Muli hatte schlapp gemacht, war nicht mehr zum Weitergehen zu bewegen als ihn Scheinwerfer blenden … 

Der Staatsanwalt, der den Vollstreckungsbefehl in Händen hält, der sachlich wieder gibt was zu geschehen hat, der daran denkt, dass die Verteidiger im Grunde gar keine Verteidigungsstrategie vorbereitet gehabt hatten. Der sich fragt, ob er seinem zwölfjährigen Sohn, der auffällig viele Fragen stellt, je wieder wird in die Augen sehen können, jetzt wo er mit dafür gesorgt hat, dass man ihn hinrichtet.

Die Ehefrau des Bezirks-Staatsanwaltes, das sein erster Fall im neuen Amt gleich dieser hier sein musste. Sie fühlt sich seltsam verpflichtet die Henkersmahlzeit zuzubereiten, die sie dem Priester übergibt und hofft, dass er mit ihm essen wird. Wie kann sie mit einer Portion Seewolf gut machen, was falsch ist und was falsch bleiben würde, was nicht geschehen durfte in dieser Nacht. Der Gedanke daran, dass ihr Mann an dieser Entscheidung einen maßgeblichen Anteil hat, machte sie ganz krank …

“Er sieht sein Leben mit jedem Bissen, den er ißt. Er schluckt seine Erinnerungen herunter”. (Textzitat)

Wie erlebt man als Verurteilter selbst seine letzten Stunden in Haft, das Warten? Die Zeit scheint sich endlos zu dehnen, jedes Geräusch sich zu verstärken und dann diese Demut, mit der der Verurteilte sein Los annimmt, alle Schmähungen erträgt – mein Herz verkrampft sich …

Immer dichter werden zum Ende des Romans hin die Szenen, bei denen man die Luft anhalten muss, nicht mehr zum Durchatmen kommt. Wir erleben dann quasi in Echtzeit die letzten Stunden vor der Hinrichtung, in der der Angeklagte auf der “Grausamen Gertie” dem Tod zugeführt werden soll, dies gemeinsam mit den unterschiedlichsten Personen und immer aus deren Blickwinkel.

Die Geschichte scheint anzuschwellen, wie ein Chor, der sich aus tausend Stimmen erhebt und mündet in einer Stille, in ich die Hände vor das Gesicht schlage. An Grausamkeit scheint das nicht mehr überbietbar zu sein. Und glaubt ja nicht, zu keiner Zeit ihr wüsstet wie die Geschichte ausgeht, das obwohl alles im Grunde kristallklar ist …

Nach dem Lesen fühlte ich mich, als wäre ich in einen Wirbelsturm geraten, in seinem Auge war es ganz still, sobald ich aber auch nur einen Finger ausstreckte, geriet ich in den Wirbel, von dem ich am Ende fix und fertig durchgewühlt zurückgelassen wurde und mich erst einmal wieder sortieren musste.

Als Eure Bücher-Apothekerin muss ich also vor den Nebenwirkungen die diese Geschichte hat warnen, aber sie ist jedes Herzklopfen, jeden Wutanfall und jeden Schweißtropfen wert!

 

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