Im Dezember 1975 berichtete zum ersten Mal der Spiegel über Zwangsadoptionen in der DDR. Voller Unglauben habe ich diverse Internet-Suchmaschinen mit diesem Thema gefüttert und bin unter anderem auf die Seite einer Interessengemeinschaft gestoßen, die dabei helfen will, das Kinder und ihre leiblichen Eltern, die der Staat DDR willkürlich und grausam auseinandergerissen hat, wieder zusammenfinden.
Wer zum Staatsfeind erklärt worden war, weil er z.B. einen Fluchtversuch unternommen hatte und damit scheiterte, wer der vorgegebenen Linie nicht folgen wollte, dem System schlicht nicht dienlich war oder nicht produktiv genug, wer als subversiv eingestuft wurde, lief Gefahr seine Kinder zu verlieren. Wissen wir heute. Das es so war. Babys wurden im Krankenhaus nach der Geburt gestohlen. Eltern die inhaftiert wurden, zwang man Adoptionspapiere für ihre Kleinkinder zu unterschreiben. Fassungslos lese ich von zahllosen Einzelschickzahlen, von Menschen die daran zerbrachen. Von Eltern, die bis heute suchen. Von Söhnen und Töchtern für die ihre Abstammung, ihre Wurzeln im Dunkeln liegen.
Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, Schriftsteller, freier Lektor und Herausgeber, greift in seinem Roman <Maifliegenzeit> dieses Thema auf, entreißt Betroffenen dem Vergessen, stößt eine Tür in die Vergangenheit auf und mich auf Ereignisse, von denen ich immer noch nicht glauben kann, dass sie tatsächlich passiert sind. Das schafft er ohne pathetisch oder polemisch zu werden und wer es noch eine Spur eindrücklicher mag, dem sei die Hörbuchfassung empfohlen, die großartig und sehr einfühlsam gelesen wird von Jörg Schüttauf.
Als Ich-Erzähler nimmt uns ein Vater, Hans, in Jüglers Geschichte an die Hand. Behutsam führt er uns zurück in der Zeit. Wir angeln mit ihm, da ist er zwölf Jahre alt, einen Karpfen, der wohl genauso viele Jahre auf seinem kupferfarbenen Buckel hat wie er und schenken ihm das Leben.
Er ist fünfundsechzig und lebt in einer neuen Partnerschaft als ein junger Mann sich meldet und vorgibt sein Sohn zu sein. Er hatte einen Sohn, der aber war gestorben kurz nach der Geburt. Das hatten sie ihnen gesagt. Ihm und seiner damaligen Frau Katrin. Daniel hatten sie ihn genannt …
Maifliegenzeit von Matthias Jügler
Auf dem Weg ins Kinderkrankenhaus nach Jena verstorben. Sein Herz sei einfach zu schwach gewesen. So die Ärztin. Ihre Erklärungen klangen falsch und ihr Gesicht. War maskenhaft starr, wie sie so da stand. Am Krankenbett von Katrin.
Die hatte ihren Sohn schreien hören. Die Narkose für den Kaiserschnitt hatte gegen Ende schon nachgelassen. Kräftig hatte das geklungen und normal.
Warum hatte ihr Mann nach der Geburt einen Berg Papiere unterschreiben müssen, einen Totenschein aber gab es nicht? Sehen hatten sie ihren Kleinen auch nicht dürfen, weder direkt nach der Geburt noch tot. Sich nicht verabschieden können.
Was war nur los mit ihrem Mann? Warum begehrte er nicht auf? Unterstützte sie. Da stimmte doch etwas nicht. Stattdessen entzog er sich immer mehr, verbrachte seine Zeit am Fluss. Ließ seine Frau allein. Fand sie bei seiner Rückkehr entweder noch im Bett liegend oder so wie heute. Auf dem Fußboden in der Küche sitzend. Weinend, verzweifelt, flehend. Und er? Fand keine Worte. Die passten.
Er wollte damit abschließen und sie wollte es nicht wahrhaben. Das ihr Sohn tot war.
Beide fanden sie nicht. Die Möglichkeit gemeinsam zu trauern und Katrin ging. Musste gehen. Nicht aushaltbar war das.
Die Unbeschwertheit ferner Sommertage, Angelabenteuer mit dem Vater am Fluss, die Faszination für Fische, für das was im Verborgenen am Grund gedieh. Die Stille dieser Unterwasserwelt, die Ruhe am Ufer, liegen wie ein Schemen hinter dieser Geschichte und der Schlag des Schicksals ist ihr Puls.
Schwarzpappeln an der Unstrut. Strudelndes Wasser und ein ungeheuerlicher Verdacht. Späte Reue, Selbsthass und Selbstmitleid.
Jügler muss selbst angeln oder er hat sich seine Detailkenntnisse rund um das Thema, die unterschiedlichen Fischarten, angelesen. Es wirkt so authentisch, als habe er selbst sein Herz an diesen Jagdsport verloren und so wird aus diesem Seitenarm seiner Geschichte ein Herzschlag, der seinen erzählenden Helden Hans nahbar macht. Das obwohl, ich ihn so manches Mal am liebsten geschüttelt hätte. Sein Verhalten als junger Vater, mag er auch überfordert gewesen sein. Fand ich schlicht grausig.
Geschwärzte Akten und Unglauben. Gierig wurden die Forellen und ließen alle Vorsicht fahren, wenn die Maifliegen tanzten. Das war ein Fest. Für jeden Angler.
Die Anfrage nach einer Exhumierung seines Sohnes lehnt man ab und empfahl ihm stattdessen einen guten Psychologen. So lange hatte ihm der Mut gefehlt nachzuforschen. Zu Hinterfragen.
Um nicht durchzudrehen hat sich der Vater, ein Lehrer, in dieser Geschichte dem Angeln verschrieben und das Fliegenfischen perfektioniert. Angelfreunde werden hier interessiert aufmerken, die Sidestory Jüglers ist detail- und kenntnisreich und entführt in eine Welt, an den Lauf der Unstrut, die still und beinahe wie verzaubert klingt. Diese Momente kontrastieren stark mit dem Rest des Geschehens und machen für mich den stilistischen Reiz dieses Romans aus.
Sprachlich sanft, ohne Pauken und Trompeten, doch das geht sich mit dem Thema aus, packt Matthias Jügler das Unfassbare wie einen Stier bei den Hörnern. Lässt Wahrheiten aufeinanderprallen.
Jeder das Recht auf seine eigene Wahrheit, trotzdem tut es weh, wenn einem nicht geglaubt wird. Besonders von denen, auf die man so sehr hofft.
Um glauben zu können, braucht es die Bereitschaft sich zu öffnen, die Sichtweise eines anderen annehmen zu können, sich nicht zu verweigern. Vertrauen erfordert Mut und wer die Gabe hat zu verzeihen, auch wenn er nicht vergessen kann, hat es leichter. Macht es leichter.
Dieser Roman rüttelt einen gründlich durch, stellt Gewissheiten in Frage, berührte mich, angesichts der vielfach nur angedeuteten Verzweiflung eines Paares, das irgendwie versucht weiter zu machen.
Enge geht nur vom Herzen aus. Wie gut, dass und Matthias Jügler gegen Ende einen Hoffnungsschimmer schickt. So kann man seine Geschichte besser verlassen und nicht nur deshalb, aber auch dafür, gibt es von mir eine Leseempfehlung. Von Herzen.
Schreibe den ersten Kommentar