Seit dem 12. Oktober 1985, 1:32 Uhr war ihre Welt eine andere.
Ein dunkler Puls schlug in den Felsen. Ihn spürte man seit dem Donner jener Nacht hier in den Bergdörfern. Eine Explosion hatte elf Männer in der Weiberer Hütte das Leben gekostet. Ihr Hall war in die Felsen eingedrungen. Hatte sich dort festgesetzt. Ein 50. Geburtstag war es gewesen, der in eine Schlägerei gemündet war und eine vom Bezirkssprengmeister hinter der Hütte, für einen Job, gelagerte Tasche mit Dynamit hatte aus einem der Opfer einen Täter gemacht. So musste es gewesen sein. Oder nicht?
An Grausamkeit nicht zu überbieten ist ein, wie man sagt, sachdienlicher Hinweis und das der ausgerechnet von ihrem Dorfarzt kommt. Mein Kopf hört nicht mehr auf mit schütteln. Das wird er diesen kompletten Roman über tun.
Nichts genaues wusste man also allerdings nicht, aber spekulieren tat man. Reichlich und die Presse druckte jede Vermutung.
Was für ein Unglück. Eines, für das noch immer kein Schuldiger feststand. Die angesetzte Sammelbeerdigung war für alle hier eine belastende Herausforderung gewesen. Eine Schinderei für die Bestatter. Der Gemeindepfarrer erschüttert und überzeugt davon, er sei ein schlechter Hirte, habe er doch vor rund drei Wochen den Wolf nicht kommen sehen …
In diesem engen Tal war eine Meinung schnell einhellig. Auch diesmal. Alles hatte mit einem Felssturz begonnen. Der hinterließ so große Brocken, dass sie nur mittels vieler kleiner Sprengungen und schwerem Gerät beseitigt werden konnten. Also wurde ein Auftrag vergeben. So kamen das Dynamit und der Sprengmeister, in den Ort. Der kannte das Dorf, das Tal, war als Sohn im Beruf auf den Vater gefolgt und hatte diesen Job nur zögernd angenommen. Hatte nicht hierher zurück gewollt. Warum? Was war das mit diesem Sprengmeister und dem Tal? Seine Geschichte packt einen rasch.
Welche Macht hat dieser Pfarrer, der hier die Instanz zu sein scheint, eine der sich alle fügen? War er tatsächlich er Strippenzieher? Seine Haushälterin, ein Bollwerk. Nichts und niemand vermochte es, einen Eindruck den sie einmal gewonnen hatte, zu verändern. Er nahm sie ein, fühlte sie aus, machte sie hart wie Stein. Vor allem dem Stubber gegenüber. Den sie für kaltherzig hielt, für einen durch und durch schlechten Menschen. Der Stubber, so hieß er, der Herr Sprengmeister. Das eigene Kind fremden Leuten überlassen, dazu hatte man hier keine zwei Meinungen. Aber der Reihe nach.
Anna Anzengruber, des Pfarrers Haushaltsvorstand, hatte selbst keine Kinder, dem Stubber sein Kind hatte sie aufgenommen, nach dieser schrecklichen Geburt, in deren Verlauf seine Mutter gestorben war. Luka nannte sie den Bub, dessen Vater sich noch in der Nacht der Niederkunft auf und davon gemacht hatte. Sieben Jahre war das jetzt her und beständig machte sie sich Sorgen um dieses Kind, das von zarter Statur war, sehr helle Haut hatte und dessen Körpertemperatur beständig schwankte, von zu heiß zu zu kalt.
Sein abgetauchter Vater reagierte indes auf keinen Brief, auf keinen Kontaktversuch. Sie hatte alles unternommen, bevor sie schlußendlich zum Amt gegangen war, der Rechte wegen, die es auch brauchte, sollte alles eine Ordnung haben. Mit dem Kind und ihr.
“Laufe einen Regenbogen, hatte er einst in einem Jugendbuch gelesen, um rückständige Menschen. Ein Satz, der ihn seither begleitete. Doch auch ihm ging man aus dem Weg.” Zitat Wolfgang Maria Bauer
Die Wut, die der Stubber, der Sprengmeister jr., vor sich her trägt ist sein Schild. Mehr Verzweiflung als Zorn. Wie mir scheint. Über das Leben, die Umstände. Sein persönliches Unglück. Die Wut, die in ihm hauste seit dem Tod der Eltern, dem Verlust seiner Frau, sie sollte ihn schützen, vor weiteren Verletzungen. Seine raue Art diente ihm zu diesem Zweck. Um andere auf Abstand zu halten.
Nur ein Freund war ihm geblieben, der Josef, der Sepp Zornacher, der aber war jetzt auch unter den Toten. Lag in der zweiten Reihe ganz außen an der Friedhofsmauer. Für ihn hatte er einen Enzian mit gebracht. Doch sie verstellten ihm den Weg. Jagten ihn fort. Gönnten ihm keinen Abschied. Die Witwen, die Angehörigen, die Dorfbewohner. Die Anna Anzengruber.
Sie und den Sprengmeister Stubber jr. verbannt eine Schicksalsnacht. Damals, als seine Eltern gestorben waren hatte das ein Loch in seine Welt gerissen. Alleinsein im elterlichen Haus, das jetzt seins war, hatte er nicht gekonnt und nicht gewollt. Bis er die Frau kennengelernt hatte. Die nach Norden aussah, mit ihren fast schneeweißen Locken, den wässrigen blauen Augen. Eine Schönheit. Für sie riss er Wände heraus, liebte sie, lebte in wilder Ehe mit ihr. Die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes, viel zu früh, kostete sie ihr Leben und er? Endgültig vorlor er da seinen Frieden. Daran erinnert sich Anna Anzengruber. Helfen hatte sie da doch müssen. Oder nicht?
Man tuschelte. Nicht nur darüber. Neuen Stoff gab es jetzt. Schon immer sprach man hier eher übereinander, statt miteinander. Das Tuscheln der Anderen klingelte gerade auch einer der Witwen in den Ohren. Nicht nur bei Gesprächen am Dorfbrunnen war man sich sicher, ihr Mann war der Selbstmordattentäter. Hatte es nicht in seiner Werkstatt ständig geknallt und seltsam war der immer schon gewesen.
Mächtige Schatten huschen über die Berge. Wenn Uhren stehen bleiben, gibt es kein Danach mehr. So war es für den Stubber gewesen, als seine Alaska gestorben war. Die Zeit stand still und die Schuld an ihrem Tod hatte er dem Kind gegeben. So war das. Deshalb hatte er fort müssen. Weg von ihm.
Geschickt eingesetzte Rückblenden, Briefe und Gedanken runden für uns Lesende das Bild. Wolfgang Maria Bauer legt uns ein Puzzle auf den Tisch und es braucht eine kleine Weile bis alle Teile ineinander passen. Das Motiv, das sich dann zeigt, ist rau und schön zugleich.
Die Ruhe mit der er erzählt, entfaltet derweil eine Wucht, die einem Sturm gleicht, der das Wasser aufwühlt. Um Schuld geht es. Um Schuldige. Um die Wahrheit. Als wenn es nur eine davon gäbe …
224 Seiten knapp ist dieses lebenspralle, lesenswerte Romandebüt. Die dazugehörige Hörbuchfassung, gelesen vom Autor selbst, umfasst ungekürzt 5 Stunden 11 Minuten. Wer einen Krimi sucht, der keiner ist, wer gerne Heimatromane liest, die ohne Kitsch und Pathos auskommen. Wer Wendungen mag und Geschichten, die nicht linear erzählt sind. Der ist hier richtigt. Dies ist eine Geschichte, die einem den Winter austreibt, obwohl sie in Eiseskälte endet. Weil es so hat kommen müssen. Geahnt hat man, von Anfang an. Vielleicht nicht wahrhaben wollen. Den Schrecken. Das was einen Menschen zum Mörder machen kann.
Großes Kino, vor großartiger Kulisse. Viel mehr Beachtung wünsche ich dieser Geschichte. Drum zeige ich sie gerne.
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