Unser aller Leben nähert sich aus dem Untergrund. Die modernen Lebensadern unserer Welt haben hier ihren Anfang und ihr Ende. Strom, Wasser, Abwasser, alle wichtigen Ver- und Entsorgungsleitungen verlaufen hier. In vielen Großstädten kann man mittlerweile als Tourist sogar geführte Touren durch die unterirdischen Kanäle machen. In Antwerpen war auch ich einmal kurz davor abzusteigen. Als ich dann aber vor der Montur stand, die ich dafür hätte anziehen müssen, kriegte ich Fracksausen und kehrte um. Aus der Tiefe stieg ein Geruch zu mir auf, der modrig und feucht war und seltsam warm. Bilder von Ratten und Schatten in der Dunkelheit krochen mir über den Rücken, eine Ur-Angst regte sich …
“Das Verlorensein ist ein enigmatischer, vielgestaltiger Zustand, der ungeahnte Kräfte in sich birgt.”
Textzitat Im Untergrund von Will Hunt
Im Untergrund von Will Hunt (Expeditionen ins Reich der Erde)
Gullideckel führen in die Tiefe, U-Bahn-Schächte, Treppen und Stollen.
Mit der Welt unter unseren Füßen sind wir so verbunden wie mit unserem eigenen Schatten, sagt Hunt. Unsere Grundängste lauern hier, gleichzeitig aber fasziniert uns an der Tiefe die Stille, die sich hier finden lässt.
Es ist schon spät, als ich dieses Buch zum ersten Mal aufschlage, Nacht und still um mich herum. Wie gut ich Will Hunt verstehe, die Anziehung, die Ruhe und Stille auf ihn ausüben. Hektisch ist unsere Zeit geworden, an der Oberfläche sind unsere Städte zappelig und unruhig. Die Tage treiben uns vor sich her, wir suchen nach Inseln in einem Sturm aus Bildern, in dieser Flut aus Informationen. Hunt hat seine gefunden, in der Tiefe. Wie Alice ihrem Kaninchen, ist er einem Urban Explorer, einem Fotografen gefolgt und hat mehr und mehr an ihr Gefallen gefunden. An der Tiefe. Am Untergrund.
Paris hat Katakomben, davon habe ich schon gehört, dabei an riesige Beinhäuser gedacht. Was auch stimmt, aber bei weitem nicht alles ist. Ich erfahre hier von denen Cataphiles und den Cataflics. Will Hunt begegnet ihnen bei seiner Unterquerung von Frankreichs Hauptstadt. In Hallen aus Stein, in unterirdischen Steinbrüchen aus Sandstein, aus denen im wahrsten Sinne des Wortes die Gebäude dieser Stadt geschlagen worden sind. Denn Paris steht teils auf einem Untergrund der ausgehöhlt ist wie ein Schweizer Käse, und in diesen seinen Räumen haben sich seine Fans eingerichtet. In aller Heimlichkeit. Die Cataphiles schaffen hier Kunst, feiern hier, es gab Konzerte, was verboten ist und die Cataflics, eine eigens im Untergrund eingesetzte Polizeieinheit, ist ihnen auf den Fersen, aber immer einen Schritt zu spät. Selbst wenn sie ein unterirdisches Kino entdecken, tags drauf ist es wie von Geisterhand verschwunden. Ist das cool, oder ist das cool? Also da würde ja selbst ich Schisser am liebsten sofort mit der Taschenlampe losziehen.
Im Pariser Untergrund war Hunt 31!! Stunden am Stück unterwegs, als ihm im Übergang von den Katakomben zur Kanalisation eine erste Ratte über den Weg lief, so groß wie ein Kaninchen. Also, jetzt bin ich raus, denke ich noch, durch Abwasser will ich nicht waten und für mich ist kaum zu glauben aber wahr, dass man während der Weltausstellung in Paris 1867, die Kanalisation als Sehenswürdigkeit mit einbezogen hatte. Man war nur wirklich hier gewesen, hatte man auch sie live erlebt, man musste in einem der Kähne, die sonst für Reinigungsarbeiten genutzt wurden, auf den Ausscheidungen der Stadt gerudert sein …
Kennt Ihr den Infanteriekapitän John Cleves Symmes? Er ist für Hunt ein Untergrundheld, erklärte 1818 er wolle ins Erdinnere reisen, weil es dort eine eigene Welt, eigenes Leben gäbe, suchte nach Sponsoren, inspirierte so unter anderem Jules Verne, der seine Romanfigur über den Krater eines isländischen Vulkans ins Erdinnere einsteigen ließ.
Experimente in der Tiefe und heißer Dampf der aus Wänden quillt. Schattentiere wie der Grottenolm, fristen ihr Leben in der Finsternis. Silber- und Ockerminen in Bolivien und Australien verbergen ihre Monster. Erdgeister die man mit Lamaherzen zu besänftigen sucht. Vielleicht gelingt es. Ganz bestimmt aber hat es hier rotes Ocker, die heilige Erdfarbe, der rote Faden, der die gesamte Menschheit miteinander verbindet, glaubt man dem Archäologen Ernst Wreschner von der Universität Haifa. Die australischen Aborigines verbindet sie mit der Traumzeit und Hunt wandelt im Outback auf einem Traumpfad bevor er eine heilige Höhle betreten darf.
Von Istanbul nach Kappadokien. Wie von Maulwürfen ausgehöhlt ist diese Welt im Tuffgestein, zehn Stockwerke tief unter dem Berg. Unterirdische Städte die ihre Bewohner vor religiöser Verfolgung schützten, schwere Steinräder verschlossen ihre Eingänge. Derinkuyu, die größte unterirdische Stadt, wie ein Ameisenbau verästelt. Auch über diese begabten Baumeister, die Ameisen kann man bei Hunt lernen, Er reiste dafür nach Tallahassee in Florida um sich mit der Architektur ihrer Nester zu beschäftigen und um sie mit menschlichen Höhlenbauten zu vergleichen.
Will Hunt, geboren 1984 in Providence, lebt in Maine, studierte Journalistik und hatte u.a. ein Lehramt für kreatives Schreiben an der Columbia University inne. Mit 16 Jahren entdeckte er in Rhode Island, nicht weit von seinem Elternhaus entfernt, einen verlassenen Tunnel. Seine erste Exkursion unter die Erde unternahm er hier, sie war der Initialfunke für viele weitere unterirdische Reisen die folgen sollten. In dem hier vorliegenden Buch, übersetzt hat es Anke Caroline Burger, erzählt er uns nicht nur von ihnen, sondern auch von der Magie des Verborgenen. Davon wie sehr wir doch alle fixiert sind auf das was wir mit unseren Augen sehen können, wie dominant dieser unser Sinn ist, und wie wenig weit wir in vielen Jahren geologischer Forschung bislang in die Erde vorgedrungen sind. Ganze 12.262 Meter um genau zu sein, was weniger als ein halbes Prozent der Strecke bis zum Erdmittelpunkt ausmacht, lehrt uns Hunt.
Dieses Buch ist wie eine Wundertüte, ungemein unterhaltsam und ich erfahre so viel und von so vielen Menschen, die sich mit dem was sich unter der Erde abspielt, auf die denkbar unterschiedlichste Art und Weise beschäftigen, beschäftigt haben, dass ich aus dem Staunen nicht mehr heraus komme. Zu allen Zeiten faszinierte diese Welt, lockte Fotografen, Schriftsteller und Entdecker unter die Erde. Unterhaltsam und fesselnd erzählt Will Hunt davon. Die Mikrobiologen*innen der NASA, die in anderthalb Kilometern Tiefe nach Leben suchen, hat er aufgespürt und war mit ihnen so tief unten wie nie zuvor. In einer aufgelassenen Goldmine in South Dakota.
Wo einst Büffel grasten, gab es heilige Orte unter der Oberfläche, der Übergang zur Anderwelt, für die Indigenen Amerikas. Heute schlägt man hier das Konterfei von Crazy Horse aus dem Berg, zehn Mal so groß wie der Mount Rushmore wird er sein, wenn er fertiggestellt ist.
Man kommt so ungemein viel herum mit ihm. An Orte die auf keiner touristischen To-Do-Liste stehen, von denen man zuvor noch nie gehört hat. Hunt unterstützt seinen Text durch Originalfotografien, so reist man tatsächlich mit ihm mit. Überwindet die Angst vor der Orientierungslosigkeit und lernt, dass unser Gehirn über ein eigenes, spezielles Navigationssystem verfügt, dieser Sinn ist uns nur abhanden gekommen. Zu nutze machen wollen sich andere die Ängste und das was Lichtlosigkeit mit uns Menschen macht aber leider auch, auch dem geht Hunt nach. Unternimmt einen Selbstversuch. Mit inneren Bildern kann man sehr gut foltern, ganz ohne den Einsatz von Drogen übrigens, und spurlos sozusagen …
Lest dieses Buch, haltet eure Augen und euer Herz offen, dann wird es auch Eure Sicht auf die Welt verändern, Euren Blick auf das lenken was nicht sichtbar ist. Ich für meinen Teil, gehe seither an keinem Gullideckel mehr vorbei ohne einen Blick hineinzuwerfen und mich zu fragen wohin er führt. Vielleicht ja auch zu einem unterirdischen Tagebuch, wie das von dem New Yorker Graffitikünstler REVS dem Hunt gefolgt ist. Oder vielleicht in einen Stalaktitenwald? Ich träume vom Allerheiligsten unter dem Tempelberg in Jerusalem, wo ein geheimnisvolles Echo in der Tiefe nachhallen soll. Kein Archäologe hat diese Höhle bisher erforschen dürfen.
Wir wissen so wenig. Es gibt noch so viele Rätsel zu lösen. Mich haben Hunts Erlebnisschilderungen in der Erinnerung zurück geführt, mich denken lassen an meine eigenen bescheidenen Ausflüge in Tropfsteinhöhlen in der Ardeche, in eine urzeitliche auf Kuba, an Australien und an Trommeln in der Dunkelheit, in einer Höhe in Südafrika, an meine eigenen Gänsehautmomente unter der Erde. An den Geruch, den ich in der Nase hatte, die Temperatur auf meiner Haut …
“Wenn sie sich in die Tiefe der Erde eingraben, gibt es für die Träume keine Grenze.”
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes
Mein Dank geht an den Liebeskind Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
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