Wilde Tiere in freier Wildbahn beobachten zu können, sie in ihrem natürlichen Lebensraum zu erleben, gleich ob über oder unter Wasser, zu Land oder zu Wasser, immer mit respektvollem Abstand und kundigem Führer, das gehört für mich zu den Erfahrungen, die mich bislang besonders intensiv bereichert haben. Wale, Delfine, Elefanten, Giraffen, und auch Löwen waren dabei. Leoparden hingegen kenne ich nur aus dem Tierpark und einen Schneeleoparden noch gar nicht, auch so hoch hinaus, in die Höhen des Himalaya, werde ich wohl niemals kommen und so legte ich mich hier hörend auf die Lauer …
Der Schneeleopard von Sylvain Tesson
An rastlose Umtriebigkeit gewöhnt, an unzählige Reisekilometer, kauert ein Mann zwischen Brennesseln im Gebüsch. Auf die Lauer gelegt und zum Schweigen verdammt hat man ihn. Neben ihm, ein Meister seiner Zunft, mit dem Fotoapparat im Anschlag. Geduld und stillhalten im Tarnanzug versprechen reiche Beute, sagt wer? Vincent Munier. Er muss es wissen, denn in der Welt ist er bekannt für seine brillianten Bilder von Wölfen, Bären und Kranichen. Gemeinsam mit seinem Vater hatte er bereits als Junge viele Nächte auf gefrorenem Boden verbracht. Wenn einer ausharren konnte, in der Erwartung des perfekten Momentes, dann er. Die Natur war sein Atelier, der Augenblick sein Verbündeter und Silvain Tesson ein Freund und neugierig.
Sechs Jahre schon war Munier ihm auf der Spur, und er war überzeugt davon er sei nicht ausgestorben, er tue nur so: Der Schneeleopard. So führte das, was auf einer gemeinsamen Dachs-Pirsch beginnt, drei Männer und eine Frau nach Tibet und in ein Abenteuer. Und ein echtes Abenteuer wartet, wie sich das gehört, nicht nur mit besonderen Momenten auf, sondern auch mit Anstrengung. Denn wollte man diese Leopardenart finden, musste man sie in 4.000 bis 5.000 Metern Höhe suchen, und im Winter. Im Himalaya.
So starten wir bei -20°, mit einer Übernachtung im Kloster, bestaunen mit offenem Mund buddhistische Tempel und ein Land das sich mit nackter Haut vor uns ausbreitet …
Sylvain Tesson, geboren am 26. April 1972 in Paris, französischer Reiseschriftsteller und Filmemacher, erhielt für “Der Schneeleopard” den Prix Renaudot und war es in Frankreich das erfolgreichste Buch des Jahres 2019. Ob mit dem Fahrrad um die Welt oder zu Fuß von Sibirien nach Indien, unterwegs zu sein ist sein Ding und darüber zu schreiben. Dies naturphilosophisch, und sehr im Detail was die Beschreibung von Fauna und Flora anbelangt. Tesson beobachtet dabei ausgesprochen präzise und entschleunigt mich mit seinen bildhaften und stimmungsvollen Beschreibungen ganz ungemein. In mir hat dieses Hörbuch sofort den Wunsch geweckt los zu recherchieren was es mit dem Autor, dem Fotografen Munier und auch mit den Schneeleoparden auf sich hat. Grandioses kann man da entdecken. Atemberaubende Fotos, ernüchternde Tatsachen, allerlei lehrreiches und jede Menge Entdeckergeist. Übersetzt hat ganz wunderbar aus dem Französischen Nicola Denis.
“Der Ernährer des Menschen, ist sein Meister”, schrieb 1902 Jack London. Die Chinesen verstehen das so: Sie bringen den Fortschritt nach Lhasa und die Tibeter sehen ihre Traditionen verloren. Ihr Paradies bei -30°, das bevölkert ist mit Menschen und Tieren die den Verzicht gewohnt sind, die in einer Klarheit und Einfachheit leben, perfekt angepasst an diese Umgebung, die durch ihre karge Schönheit besticht.
Der eigene Atem steht vor einem in der Luft, in kleinen verräterischen Wölkchen. Reglos zu warten bei diesen Temperaturen muss ungeheuerlich Kräfte zehrend sein. Wie groß muss da die Leidenschaft sein, um dem standzuhalten! Mich erfasst Ehrfurcht und wie so oft, stelle ich mir, als jemand der gute Tierdokumentationen liebt die Frage, was hat es wohl alles gebraucht um diese Aufnahmen zu ergattern, damit ich sie bequem vom Sofa aus bestaunen kann?
Dieses Hörbuch, dieser Reisebericht, ist auf eine ganz besondere Art spannend und er erzeugt auch ganz eigene Bilder. Mein Kopfkino war diesmal schwarz-weiß und eiskalt. Man verharrt mit denen, die auf der Lauer liegen mit angehaltenem Atem und in gespannter Erwartung. Gleich muss es soweit sein, er muss sich doch zeigen. Da, psst, hört ihr das nicht auch? Okay, diesmal ist es nur ein wilder Esel und zunächst lassen sich tatsächlich nur Yak- und Wildeselherden blicken, während man weiter friert, es nie schneit und der Himmel amboßblau ist. Schneeleoparden brauchen Beutetiere und in ihren Revieren sind dies häufig Wild-, aber auch Haustiere und so eine Horde Yaks war doch eine Einladung …
“Er trug das Wappen der tibetischen Landschaft. Sein Fell, Intarsien aus Gold und Bronze, gehörte dem Tag, der Nacht, dem Himmel und der Erde. In ihm spiegelten sich die Kämme, der Firnschnee, die Schatten der Schlucht und das Kristall des Himmels.”
Textzitat Sylvain Tesson Der Schneeleopard
Das Tesson, der poetisch schöne Sprachbilder für diese Schneeleoparden-Exkursion findet, dem ausgezeichneten Tierfotografen Munier folgen wollte, nötigt mir gewaltigen Respekt ab. Denn mit Munier unterwegs zu sein, heißt keine einfachen Spaziergänge unternehmen. Die Gegenden in die er aufbricht sind zumeist unwirtlich, verlangen ihm und seinen Begleitern alles ab. Mental und körperlich. Nicht selten bleibt er mutterseelenallein zurück, harrt aus. Sein Lebenstraum sei, sagt er, einmal völlig unsichtbar sein um einem Tier ganz nah zu kommen zu können. Tagelang war er schon allein unterwegs u.a. im arktischen Weiß, auf den Spuren von Polarfüchsen und Eisbären. Was er dort mit Hilfe von Spezialkameras einfangen konnte ist unfassbar und beeindruckend. Schaut mal:
“Leben, Tod, Stärke, Flucht, ein Kurzschluss in der Schönheit.”
Textzitat Sylvain Tesson Der Schneeleopard
Ein Gaskocher und schwarzer Tee in der Hütte vermitteln ein trügerisches Gefühl von Wärme, es hat auch hier noch -10°und am Berg beginnt die Nacht des Jägers. Uhus halten Wache, Gespräche werden im Feuer geboren. Das Team verbringt die folgenden Nächte in einer Höhle im Fels. Tagsüber bleibt während des Wartens, des Lauerns, viel Zeit, auch für metaphysische Gedankengänge. Für Gedanken über Jäger und Gejagte, über Beute und Kampf. Tesson schweift ab und ich folge ihm durch die Schleifen seiner philosophischen Sätze. So gerne, bade förmlich darin, finde sie großartig. Genieße. Umgeben von Sechstausendern …
“Warten war ein Gebet, etwas kam und wenn nichts kam, hatten wir nicht hinzusehen gewusst.”
Textzitat Sylvain Tesson Der Schneeleopard
Der studierte Geograph Tesson schreibt im Schneeleoparden nicht nur über sein eigenes Erleben und seine Gedankengänge, er portraitiert gleichzeitig den Fotografen Munier, dies voller Respekt und Hochachtung. Fragt sich, wie das wohl immer wieder funktioniert, aus solch selbstgewählter Einsamkeit zurückzukehren in die Unordnung eines normalen Lebens. Und er erzählt uns von sich, von Verlust, von einer Leere, die er mit und durch das Unterwegssein zu füllen versucht.
Vielleicht gelingt ihm das ja hier, am Oberlauf des Mekong, wo der noch junge Fluss nur eine dünne Schlangenlinie ist, wo Wölfe an frisch geschlagener Beute zerren. Beobachtet mit Angst im Herzen und Wut im Bauch.
“Alle Wesen entspringen dem Sein”, lies noch mal im Dao. Mach ich, denn ich liebe die Zitate, die Tesson hier wiedergibt und habe so gleich noch einen Grund weiter zu googeln. Geschichten, die mich auf den Weg schicken, die mich mehr herausfinden lassen wollen, über das was ich da gelesen oder gehört habe, sind mir die liebsten und diese hier ist eine solche, das unterstreiche ich gleich zweimal. Ich kann euch nur einladen, es mir gleich zu tun, es lohnt sich so!
Eine Überraschung der ganz besonderen Art wartet gegen des Hörbuchs auf alle die, die mit wachem Blick auch das Innenleben und die mitgelieferten Zeichnungen und Fotos betrachten. Wer beobachtet eigentlich wen da draußen? Oh, Mann hab ich eine Gänsehaut!
Bildquelle: Argon Verlag, Vincent Munier
Tom Wlashiha, geboren am 20. Juni 1973 in Dhona, liest 4 Stunden 31 Minuten, ungekürzt vor (viel zu schnell geht die Zeit vorbei!), und er passt mit der eindringlichen Sachlichkeit seines Vortrages sooo gut zu diesem Text. Alle seine Sätze haben einen Nachhall, der mich andächtig lauschen lässt. Sie hängen nach einem Punkt immer ein klein wenig noch in der Luft, und besonders bei den nachdenklichen Passagen schickt er mir so ein anhaltendes Kribbeln über den Rücken. Der Game of Thrones – Star agiert ruhig, ausgeglichen und stimmlich klar. Eisklar. Wie der Wind, der über die tibetischen Höhenzüge streift, nimmt er meine Gedanken auf und trägt sie fort. Ganz schnell war ich ganz weit weg, ohne Zehn-Stunden-Flug, ohne Kofferpacken, ohne Corona-Test und ohne Quarantäne. Dankeschön, Team Tesson/Wlaschiha für diese wunderbare Gedankenreise!
“Ich hatte gelernt dass die Geduld eine höchste Tugend war, die eleganteste, meist vergessene. Sie half dabei die Welt zu lieben, statt sie verändern zu wollen. Sie lud dazu ein, sich vor die Bühne zu setzen, die Vorstellung zu genießen und sei es nur ein zitterndes Blatt. Die Geduld war die Verneigung des Menschen vor dem Gegebenen …”
Textzitat Sylvain Tesson Der Schneeleopard
Was für eine Unternehmung! Dankeschön an das Team des Argon Verlages für diese Hör-Inszensierung und dieses Rezensionsexemplar! Weiterführende Informationen dazu nach einem Klick auf das Cover.
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