Bis zu drei Monate lang den Winter verdösen, zwischen Oktober und Dezember, in dieser Zeit nichts fressen und auf der faulen Haut liegen. Dabei stets ein Ohr auf das Draußen haben. Auf das Außerhalb der eigenen Höhle, immer auf der Hut. Um den Nachwuchs zu beschützen.
Das Phänomen Winterruhe bei Bären beschäftigt seit Jahrzehnten Wissenschaft und Forschung, auch die geriatrische. Wie ist es möglich so lange zu liegen ohne einen Dekubitus zu entwickeln? Ohne Muskeln oder Knochenmasse zu verlieren, lediglich Gewicht? Wie hat die Natur das eingerichtet, dass sich Atmung, Kreislauf und Herzschlag nur so weit verlangsamen, dass ein Bär in dieser Zeit der Ruhe noch verteidigungsbereit bleiben kann?
Bis heute ist dieses Rätsel nicht entschlüsselt und es bleibt weniger Zeit es zu enträtseln. Denn zu beobachten ist, dass der Klimawandel sich auf die Winterruhe der Bären auswirkt. Ist es ganzjährig mild, bleiben die Bären wach, bewegen sich zwar verlangsamt durch ihre Reviere, aber verbleiben nicht für Monate in einer Höhle.
Dies bestätigt die französische Behörde für Biodiversität, die in den Pyrenäen seit 2022 wieder mehr Braunbären zählt. Auf 83 Tiere sei der Bestand angewachsen.
Findet ihr das genauso faszinierend wie ich und habt ihr Lust auf eine forschende, fordernde Pirsch? In dieser noch druckfrischen Geschichte könnt ihr eine unternehmen. Sie führt uns an die Flanke des Pic de Montcalm, der mit seinen 3.077 Metern der höchste Punkt des Departements Ariege, auf der französischen Seite der Pyrenäen ist.
Im Tal der Bärin von Clara Arnaud
Der Geruch des Tieres war stark. Sein Herz klopfte … bis zum Hals. Er hatte es wirklich gewagt und war jetzt hier. In der Höhle der Bärin. Um ihr ein Junges zu stehlen. Sein Junges.
Als er die Kerze fand und entzündete sah er Krallenabdrücke an den Wänden, die musste die Bärin beim Graben hinterlassen haben. Mächtige Spuren. Er hörte ein leises Knurren. Dann endlich, in den Schatten, sah er gleich zwei kleine Bären. Sack auf und jetzt kam es darauf an, er musste ganz schnell hier raus. Seine kostbare Beute und sich in Sicherheit bringen. Denn er spielte gerade mit seinem Leben. Jeden Moment konnte sie zurück sein. Die Bärin. Ausgehungert von der Winterruhe.
Clara Arnaud, geboren 1986 in Fontainebleau, studierte Chinesisch und Geografie, lebte fünfzehn Jahre im Ausland u.a. in China und Honduras, veröffentlichte Reiseessays und drei Romane.
Im französischen Original titelt “Im Tal der Bärin” mit <Et vous passerez comme des vents fous>. Sophie Beese hat ihn für uns und den Verlag Antje Kunstmann ganz wunderbar empatisch ins Deutsche übertragen, nebenbei bemerkt ist es der erste Roman von Arnaud, der in deutscher Übersetzung erhältlich ist. Ich darf mich an dieser Stelle ganz herzlich für das Besprechungsexemplar bedanken, greife vor und sage, ich freue mich bereits sehr auf weiteres aus ihrer Feder.
Clara Arnaud eröffnet mit einem Satz, der meisterlich mich und die Quintessenz ihres Textes einfängt:
>Wir lebten in Frieden wie unsere Berge.
Ihr kamt gestürmt wie wilde Winde ...<
Wir, damit sind vielleicht auch die Hauptfiguren ihres Textes gemeint, denn beide sind Fremde in diesem Tal. Gaspard, sie nennen ihn den Städter, obwohl er hier geboren ist, weil er lange in Paris gelebt hat. Aussteiger und jetzt Schäfer, der nur schwer mit den Folgen eines tödlichen Unfalls, dem einer Kollegin zurechtkommt und Alma. Ethologin mit avantgardistischen Methoden, Bärenforschende mit Leib und Seele, die herausfinden will, wie ein Zusammenleben zwischen Mensch und wiederangesiedeltem Wildtier funktionieren kann. Die ihrerseits in dieser Gegend einen persönlichen Neuanfang wagen will. Sie hat eine Trennung hinter sich, ist deswegen aus einer Anstellung in Alaska geflohen, die man eigens für sie geschaffen hatte.
Da sind sie also jetzt beide, an einem Ort, in einem Pyrenäental, mit Bärenhütertradition. Wo man sich noch heute von Jules erzählte, der um 1820 ein Junges aus der Höhle einer Bärin stahl um nach Amerika zu gehen, um als Hüter nebst Tanzbär berühmt zu werden.
Eine Archivaufnahme aus dieser Zeit, in schwarzweiß, findet sich auf den ersten Seiten im Buch. Sie zeigt einen Mann mit einem Braunbären, beide aufrechtstehend und einander anschauend, keinesfalls aber konnte oder kann man hier von “auf Augenhöhe” sprechen.
Tanzbären waren arme geschundene Kreaturen und der Zorn und der Hass der im Verlauf von Arnauds Geschichte hohe Wellen schlägt, sähe sie am liebsten so. Gebändigt, hinter Gittern, gebrochen.
Bis es soweit ist entführt uns die Autorin in eine grandiose Bergwelt. Sprachlich balanciert sie dabei herrlich poetisch ihre Naturbeschreibungen aus. Es macht schlicht Freude das zu lesen.
Abstürze, auch tödliche kamen vor in den Bergen. Nichts war bewiesen, aber man nannte sie die Mörderbärin. Videos von vermumten Gestalten begannen im Netz zu kursieren man wolle dem Tier sein “Mörderhirn” herauspusten.
In einem dritten Erzählstrang erfahren auch wir Lesenden mehr von Jules und seiner Bärin. Im April 1885, da ist das gestohlene Tier zwei Jahre alt, geht Jules auf Drängen seiner Mutter zum Schmied, der durchsticht ihr die Nase, bringt einen Ring ein, ein grausames Spektakel. Am Herd darf sie fortan auch nicht mehr schlafen, sie muss raus aus dem Haus, Schluss mit Kuscheln es galt sie zu bändigen, sollte sie nicht beim Schlachter enden. Das war der erste und notwendige Schritt, sagen sie ihm, seine Bärin zu versklaven um sie dann zu dressieren.
Alma ist überzeugt davon, das mehr ethologisches Wissen über die Bären das Zusammenleben mit ihnen maßgeblich verändern kann und startet in ein ehrgeiziges Projekt um mehr Informationen über das Verhalten der Bären zu sammeln. Sie liebt die Berge und ihre Feldforschung, geht darin auf.
Schwarze Schafe, die Berge und die Tiefsee, ein abwesender Vater. Alma versteht ihn jetzt besser. Hier oben. Allein.
Der Klimawandel ist auch in dieser Geschichte präsent, im gegenwärtigen Erzählstrang quält eine Hitzewelle selbst hoch oben in den Bergen Mensch und Tier. Ausgetrocknete Seen, verdörrte Wiesen und Unwetter gehören zu diesem Sommer, indem sich eine Bärin und eine Forschende schicksalhaft begegnen.
"Die Berge träumen. Aber wovon träumen sie, unsichtbar in der Nacht? Sie waren mehr als die Summe der verschiedenen Lebenspfade, die sich hier kreuzten, mehr als die Formen, Unebenheiten, Falten, die glatten und rauen Oberflächen, an denen die Zeit nagt. Sie waren die felsgewordene Zeit selbst."
*Textzitat Clara Arnaud*
Was mochte ich am meisten an diesem Roman, worauf dürft ihr Euch freuen? Auf wunderbare Landschaftsbeschreibungen, auf ein Thema, das lehrt ohne zu belehren.
Auf die Auseinandersetzung mit einem Thema, das auch anderen Ortes und auf anderer Grundlage bereits diskutiert wird und wurde. Wölfe und Bären sind zurück in Wäldern und Bergen.
Clara Arnaud lässt sich Zeit um ihre Geschichte zu entwickeln, ganz langsam spitzt sich dann dramatisch zu. Wer gehört hierher? In diese Berge? Der Bär oder die Hüter mit ihren Schafen? Als wildes Tier ist der Bär auf der Jagd und sein Tisch ist durch die Schafherden reich gedeckt. Alles war so friedlich als er fehlte, ist es richtig ihn jetzt zu vertreiben? Die klassische Frage nach dem Wer war zuerst da, die Henne oder das Ei spaltet eine Gemeinschaft. Nicht nur Meinungen prallen aufeinander. Es fallen Schüsse.
Leidenschaftliches Engagement würzt Claire Arnaud mit einer Prise nature writing, sie weiß wie man Leser:innen bei der Stange hält. Man bestaunt und genießt mit ihren Figuren den Blick in die Weite, die Stille und Ruhe am Berg, ahnt dabei aber schon, dass es so nicht bleiben wird.
Wie sie ihre Protagonisten ausstattet, so kämpferisch für die eigene Überzeugung eintretend und immer bei sich, das mochte ich an Alma und Gaspard sehr und Jules, auf der zweiten Erzählebene, in der Vergangenheit, den Träumer fern der Heimat, ihn auch.
Erzählerisch schließt sich der Kreis bei Arnaud nicht, es endet wie es vielleicht enden muss. Bären sind keine Kuscheltiere, ihre Kraft sollten wir nie unterschätzen und besser an das Wilde glauben.
So ist dieser Roman dann auch ein Plädoyer für mich. Eines, für die Bären, für den Schutz ihres Lebensraums im Herzen von Europa. Ein Plädoyer, dass ich sehr gerne gelesen habe. Nicht nur in den Pyrenäen gibt es Problemstellungen, auf die zu schauen gut tun würde. Das diese Geschichte es geschafft hat, mich herauszureissen aus meinem Alltag, meinen Blick auf thematisch anderes zu lenken, wenn auch nur für den ein oder anderen lesenden Momente lang, dafür mochte ich sie auch und wegen des großen Herzens, dass sie für die Bären hat, drum möchte ich sie Euch an das Eure legen.
Schreibe den ersten Kommentar