Allein bleiben. Am Ende eines einmal gemeinsam begonnenen Lebensweges. Wünscht sich niemand. Was dagegen tun und wann damit beginnen? Kann eine Wohngemeinschaft eine Alternative sein? Finden sich Mitbewohner mit denen man sich versteht? Verbinden kann? Kann man sich selbst da noch einfügen? Nach Jahren der Alleinlebens vielleicht? Nach einer Trennung? Dieser Frage geht der aktuelle Roman von Isabel Bogdan nach. Unter anderem und ich greife jetzt mal vor, ihr Gedankenexperiment hat mir gefallen, sehr sogar.
Wohnverwandtschaften von Isabel Bogdan
Im Februar 2022.
Nur mit Lieblingssachen und einem weiß lackierten Klavier, dass sie nicht spielen kann, ist Constanze, Zahnärztin, hier angekommen. In einem 4 x 5 Meter großen Zimmer. In einer WG. Getrennt von Flo und von einer gemeinsamen großen Bücherwand. In einem Zimmer mit Bett und ohne Schlafsofa, ohne Küchenutensilien. Angekommen in einer neuen Bleibe, die sich nicht nach einem Zuhause anfühlt. Noch nicht.
Jörg, achtundsechzig, Ex-Journalist, ist der Wohnungseigentümer und Bulli-Besitzer. Gedanklich ist er auf dem Weg nach Georgien. Jörg, der nicht allein sein will, seit dem Tod seiner Frau, wenn er zu Hause ist. Nach Georgien hatte er zusammen mit ihr gewollt. Jetzt will er es allein angehen. Sie in Gedanken mitnehmen.
Anke, Schauspielerin Ü50, ohne Rolle, seit längerem schon und Murat, Womanizer, gärtnender IT-ler, der alle gekonnt bekocht, wohnen auch hier, sind jetzt Constanzes Wohnverwandten. Sie denkt, das ist nur eine Phase, so zu leben, eng beieinander, mit im Grunde Fremden. Bis es anfängt sich gut anzufühlen und richtig und ein Hund einzieht.
Er heißt Alien. Sieht wohl auch so aus. Murat schleppt ihn an. Nach einer Beerdigung wusste niemand wohin mit ihm. Jetzt ist er hier und soll bleiben. Jörg ist dagegen. Zuerst. Dann eine Geburtstagsparty und ein entzündeter Blinddarm. Eine Narkose und danach Verwirrtheit. Bei Jörg. Die nicht mehr vergehen will.
Langsam wird es Zeit. Für Murat, Anke und Constanze, sich Gedanken zu machen, wie das weitergehen soll. Mit Jörg. Der immer mehr vergisst, wo er sein Auto gelassen hat, der nicht mehr allein nach Hause findet. Die Lebensgemeinschaft versucht einen Umgang damit zu finden. Anke hat die Idee Foto-Alben durchzugehen und seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Für seinen Sohn, seinen Enkel und Jörg lässt sich darauf ein. Kämpft mit den Fragmenten die im geblieben sind, um sie zu ordnen. Zusammenhänge wiederherzustellen. Anke entdeckt eine Begabung, die sie so nicht auf dem Zettel hatte.
Isabel Bogdan, geboren am 05.Juli 1968, Übersetzerin, Autorin, Bloggerin studierte Anglistik und Japanologlie in Heidelberg und Tokio. Nach Der Pfau aus dem Jahr 2016 und Laufen von 2019, beide Geschichten habe ich sehr gerne gemocht, gibt es jetzt endlich wieder einen neuen Roman von ihr. Bogdan lebt in Hamburg, wo sie auch ihren WG-Roman Wohnverwandschaften verortet hat. Das Wohnen ist teuer hier, Wohnraum knapp, sich da zusammentun, aus der Not eine Tugend machen, scheint auf den ersten Blick der Hand zu liegen. Auf den zweiten Blick sprechen weitere Gründe dafür, nicht allein zu leben. Als Single.
Was für eine Geschichte sie sich diesmal ersonnen hat. Eine, die sich anfühlt, als habe Bogdan sie als, ihr, ein Drehbuch geschrieben. Regieanweisungen und ballwechselsichere Dialoge bewegen ihre Figuren, die dem Gefühl nachspüren, wie es sich anfühlt und ob aus einer zufällig zusammengewürfelten Gemeinschaft mehr als Freundschaft erwachsen kann. Eine Wahlfamilie vielleicht? Ob Wohngemeinschaftsmodelle, weit jenseits von wilden Studentenzeiten funktionieren können und wie.
Reihum erzählen die vier Bewohner uns von sich, von einander. Von Verlusten, Kummer, Lebensängsten, von Lösungen und Zusammenhalt. Von gutem Essen, der Leidenschaft zu kochen und der Fähigkeit, sich bekochen zu lassen, zu genießen. Das Leben zu lieben und die Menschen. Davon wie sich Wege öffnen. Oft genug unerwarteter Weise.
Es steckt Schmerz in dieser Geschichte, aber auch Trost. Die Balance zwischen beidem ist es, die ich sehr gerne mochte.
Lebendig, wie im Zeitraffer erzählt Isabel Bogdan eine recht kurze Spanne aus dem Leben ihres Personals und sehr gelungen fand ich die dabei eingesetzten Blickwechsel, alle im Text bleiben in ihrem eigenen Ton und das Konstrukt ihrer Geschichte. Wie sie es zuspitzt. Großartig.
Lebensecht und sehr nah dran bleibt sie an ihren Figuren. Begleitet sie ein gutes Jahr lang. Langsam dann immer schneller verändert Jörgs Krankheit das Leben der kleinen Gemeinschaft. Die es sich leicht machen könnte. Man ist ja schließlich nicht verwandt. Tut sie aber nicht. Was immer da war, ist nicht mehr. Vielleicht aber doch.
Heikko Deutschmann liest in der knapp sechs Stunden dauernden Hörbuchfassung Jörgs Part, neben Katharina Wackernagel, Lavinia Wilson, Serka Kaya, Julian Horeyseck und Isabel Bogdan selbst, hat er mir am besten gefallen. Es fasst einen an, jemanden so wie Jörg immer mehr verschwinden zu sehen, der ehemalige Journalist verliert seinen größten Schatz. Die Wörter. Vergisst alles, nur das Vermissen nicht. Das gilt vor allem anderen seiner verstorbenen Frau Brigitte. Wer einen Demenzkranken begleitet oder begleitet hat wird sich gespiegelt sehen. Sehr empatisch und glaubwürdig gelingt Bogdan der Blick, den Jörg nach innen wirft.
Nur zu gerne wäre ich noch etwas länger in dieser WG geblieben. So viele Fragen sind offen. Was werden sie jetzt machen? Nach dieser Sylvesternacht. Wer wird sich wie entscheiden? An dieser Kreuzung, die ihnen das Leben ungefragt in den Weg stellt.
Es ist, wie es immer ist. Eine Geschichte endet dann, wenn sie vorbei ist. Also nie. Hörte ich zuletzt, glaube ich, von Arno Geiger auf dem Weg nach Laredo.
Wer jetzt Lust bekommen hat auf eine Geschichte aus dem Leben, die glaubwürdig, warmherzig, humorvoll und traurig zugleich ist. Der greife hier zu und wenn es nach mir geht nach der Hörbuchfassung, die wie ein kleines Theaterstück ganz wunderbar und vielstimmig inszeniert ist und auch so vorgetragen wird.
Also ich für meinen Teil hätte große Lust auf eine Fortsetzung …
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