Besser man schafft es, sich das Staunen zu bewahren. Neugierig, und im Herzen ein Kind zu bleiben. Den Zauber noch spüren zu können und eine Freude über die kleinen, die einfachen Dinge, wie Erdbeereis im Sommer, eine Schlittenfahrt im Winter oder Barfuß laufen. Erwachsen werden ist anstrengend, Alt werden nichts für Feiglinge, was wenn man es nicht müsste? Mit dieser Idee beschäftigt sich Cornelia Travnicek auf ihre ganz eigene Art. Auf eine Art, die es mir sehr angetan hat, ich greife schon mal vor.
Fast ein wenig mehr noch als mich vor Jahren schon James Matthew Barrie und Peter Pan, als sie mich nach Nimmerland entführten. Die Figur des Peter Pan tauchte 1902 zum ersten Mal auf und wurde seither zig Mal adaptiert. Als Bühnenstück, Musical und auch literarisch. Mit ihm habe ich davon geträumt, mir das Erwachsenwerden zu sparen, habe meinen Schatten verloren und wieder gefunden, bin über die Dächer geflogen, es brauchte ja nicht viel dafür, nur einen schönen Gedanken und eine Prise Feenstaub …
In der Geschichte Der Kinderdieb von Brom hätte ich ihn dann beinahe nicht wieder erkannt. Eine ganze Spur gemeiner ist er hier, was für ein Fest war dagegen das Wiedersehen, das ich hier feiern durfte. In Travniceks Feenstaub versteckt er sich zwar hinter stapelweise schönen Sätzen und er nennt sich jetzt Petru, ich habe ihn aber trotzdem sofort erkannt …
“Unsere Insel ist das Niemandsland. Hier vergeht die Zeit schneller, je nachdem, wie man es sieht. Es heißt, alle Kinder würden eines Tages das Niemandsland verlassen. Dann, wenn sie erwachsen sind. Aber ein Kind nicht. Ich. Ich weigere mich, erwachsen zu werden.”
Textzitat Cornelia Travnicek Feenstaub
Feenstaub von Cornelia Travnicek
Eine Insel im Fluss, am Rande einer Großstadt. Ohne Gesicht und austauschbar. Sie leben hier. SIE sind die, die verloren sind, die vergessen sind, Kinder ohne Familie, ohne Eltern. Hier ist ihre Zuflucht, hier ist ihr Zuhause. Solange zumindest, wie sie seinen Reichtum mehren. Wenn der Nebel sie ausspuckt, schwärmen sie aus um zu stehlen. Für ihn, für den Krakadzil, der nach jedem Raubzug ein paar Scheine mit ihnen teilt. So überleben sie.
Petru ist einer von ihnen und es macht ihm nicht aus. Im Team mit Cheta und Magare ist er unschlagbar. Als Dieb. Als Schatten. Hier gehört er her, zu ihnen. Zumindest glaubt er das, solange bis er Marja zum ersten Mal begegnet und sie ihn mit zu sich nach Hause nimmt. Bis sie beginnt ihm das Lesen beizubringen, damit er versteht. Versteht was ein Zuhause wirklich bedeutet …
“Du bist vielleicht ein verlorener Junge, Petru, aber solange etwas verloren ist, bedeutet das auch, dass noch jemand danach sucht.”
Textzitat Cornelia Travnicek Feenstaub
Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt lt. Klappentext in Nieder-Österreich, studierte Sinologie/Chinakunde und Informatik, arbeitet in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Klingt spannend, obwohl ich mir einen konkreten Arbeitstag von Frau Travnicek gerade nicht vorstellen kann.
Kurze klare Sätze und ein Erzähltakt, wie ich ihn so noch nicht gelesen habe, machen aus dieser Fantasie-Erzählung Literatur. In meinem Bauch geht ein Märchen auf, mein Kopf sagt, es geht um Parallelgesellschaften, um das was wir nicht sehen, weil wir es nicht sehen wollen. Es bleibt aber. Hier und da. Vor unser aller Augen. Trotzdem. Immer. Ich bin verliebt in diese Geschichte, wegen ihrer Wehmut, ihrer Geister und wegen Sätzen wie diesem hier:
“Ich weiß nicht, wann Winter geworden ist. Irgendwann zwischen eben noch nicht und jetzt aber schon.“
Textzitat Cornelia Travnicek Feenstaub
Ein Hauch von Schicksal weht durch die Seiten und mit dem Winter kommt Luca, acht Jahre alt in die Gang, dem Petru beibringen soll, was es heißt ein guter Taschendieb zu sein. Der vor Heimweh krank wird, als der Fluss krachend zufriert, das Eis Risse bekommt und Magare eine Waffe mitbringt. Ein “großes Ding” soll es werden und dann würden sie frei sein, wäre da nicht Chetas Sturz aus dem Baumhaus gewesen, der angeblich nur ein Flugversuch war, dieser verdammte Feenstaub!
Ein antik wirkender Schutzumschlag, in schimmernden Goldbuchstaben prangt der Titel darauf, darunter ein sandfarbener leicht gerillter Einband. Schmal und klein, mutet es an, hat es aber faustdick zwischen seinen beiden Deckeln. Hier wohnen Monster, Nixen und Sirenen. Flinke Finger sorgen behände für leere Taschen und für volle. Je nachdem. In Nächten und Träumen lauern Schatten, Vermissen und Sehnsucht. In den Tagen herrscht die Gier und wäre da nicht die Freundschaft, man müsste verzweifeln …
Eine ganz und gar wunderbare Peter-Pan-Fassung ist Travnicek gelungen. Eine Geschichte wie Goldstaub, kostbar und besonders. Ihr eigen ist ein wunderschönes, poetisches Satzbild und nicht nur das. Auch die Gliederung ihrer Geschichte in viele Kurz-Kapitel hat es mir angetan. Dadurch fühlt sich ihr Roman an, wie ein Gedicht mit Überlänge. Von Post-Its übersät war er am Ende, so viele Markierungen habe ich mir gemacht, so viele Sätze wollte ich mehrfach gelesen, bin “schneckenpostlangsam” über die 278 Seiten gekrochen, habe jede Silbe aufgesogen. Eine moderne und gleichzeitig alters-und zeitlose Erzählung hat sie ersonnen, die realistisch und phantastisch zugleich ist.
“Von nichts wissen wir, in Wahrheit, sogar wenn wir es einander entgegenschreien. Und wer würde uns auch glauben.”
Textzitat Feenstaub Cornelia Travnicek
Alles kommt, wie es kommen muss. Immer. Klammheimlich ist sie mir unter die Haut gekrochen, diese Geschichte, hat angedockt an meinem Herzen, ist mir zum Einschmeichler, zum Seelenwärmer geworden. Was wäre mir entgangen, hätte ich sie verpasst! Lasst Euch einfangen von ihr, so wie ich. Lasst Euch vereinnahmen mit Haut und Haaren, so wie ich. Denkt an mich, beim Lesen, vielleicht ein bisschen. Denkt an die, die wir nicht sehen, vielleicht ein bisschen mehr. Habt Mut, bleibt neugierig und verwegen. Denn das Leben will gelebt werden. Am Kragen gepackt jeden Tag und Romane wie dieser gehören dazu. Bitte gerne mehr davon. Damit wir uns weg träumen können, damit wir wieder hinsehen lernen, wieder zuhören, aktiv.
Mein Dank geht an den Picus Verlag für dieses Rezensionsexemplar und dafür, dass Autoren wie Cornelia Travincek hier ein zu Hause gefunden haben.
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