Die Unsterblichen (Chloe Benjamin)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 06.01.2019

Was wäre wenn? Wenn jemand uns verbindlich sagen könnte, an welchem Tag wir sterben müssen? Würden wir dann ein anderes Leben leben? In Angst verharren, oder mutiger sein? Hätten wir das Datum immer im Kopf, oder könnten wir es hinten anstellen? Was wäre wenn, auch unser Partner, unsere Familie es wüssten und wir es auch von ihnen? Ein ungeheuerlicher Gedanke findet ihr? So erging es mir auch und schon steckte ich kopfüber in dieser seltsam märchenhaft und doch kraftvoll erzählten Geschichte …

Die Unsterblichen (Chloe Benjamin)

Wir schreiben das Jahr 1969 in dem alle irgendwie bekifft schienen, oder in Woodstock feierten, im Kino Asphalt-Cowboy schauten, der freien Liebe hinterher jagten.

Es war heiß, über dreißig Grad, und die vier Gold-Geschwister waren ihrer Mutter erleichtert über die Feuertreppe entkommen. Nicht schon wieder Hausarbeit! Andere durften sich auch rum treiben und mussten nicht ständig lästige Pflichten erledigen. Für heute hatten sie sich viel vorgenommen, Daniel wollte endlich diese Wahrsagerin aufspüren, von der er schon so viel gehört hatte. Ganz besessen war er von dieser Idee. Ständig wechselte diese Frau zu ihrem eigenen Schutz die Wohnstätte, konnte sie doch, so ging die Rede, einem jeden seinen Todestag treffsicher vorhersagen und machte sich damit nicht nur Freunde …

Als Varya der Hellseherin schließlich in ihrer Wohnung gegenüberstand, und ihr beim ungerührten Hantieren mit Teeblättern an ihrem Spülstein zusah, hieß diese sie die Schuhe ausziehen und sich zu setzen. Nach den ersten Worten, die die fremde Frau an sie richtete, kam es ihr vor, als könne diese tief in sie hinein schauen. Sie waren allein, ihre Geschwister waren fort und als sie die alles entscheidende Frage stellte, wann sie sterben müsse, lautete die Antwort 2044. Sie schluckte, war enttäuscht, dann würde Varya achtundachtzig sein und sie hielt diese Antwort rund heraus für eine Lüge. Sie hatte also doch nur eine Scharlatanin wie viele andere auch vor sich …

Wenig später dann traf sie vor dem Haus der Hellseherin wieder auf ihre Geschwister, diese wirkten seltsam verstört und auch beim gemeinsamen Abendessen mit den Eltern hatte sich ihr Bruder Daniel immer noch nicht beruhigt. Wo waren ihre Geschwister gewesen, während Varya mit der Wahrsagerin gesprochen hatte? Hatte ihnen diese Frau auch ihren Todestag  vorhergesagt? Aber, wie sie auch nach bohrte, aus den Geschwistern war nichts rauszukriegen …

Chloe Benjamin – ist achtundzwanzig Jahre jung und lebt in Wisconsin mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Nathan Hill zusammen.

Klar und chronologisch, immer aus der Perspektive des jeweiligen Geschwisters baut sie ihren Erzählstrang auf. Rückblenden ergänzen gemeinsam erlebtes und verpaßtes, wecken besonders in diesen Rückschauen Verständnis für den jeweilig anderen. So nachvollziehbar, so menschlich!  Wir starten mit:

Simon, der nach San Franzisko flieht als er entdeckt das er schwul ist, dort in Nacht-Clubs versackt, tanzen lernt, sich unsterblich verliebt. Diese Stadt war für ihn wie eine Droge, er lebte sich exzessiv aus und brachte seine Mutter gegen sich auf, so dass sie ihn gar verstieß. Als AIDS, eine damals noch namenlose, todbringende Krankheit in der Gay-Community um sich greift realisiert er, dass die Wahrsagerin doch Recht gehabt haben könnte mit ihrer damaligen Aussage, er würde die dreißig nicht überleben …

Der Tod von Simon schlägt ähnlich einer Splitterbombe in der Familie ein, Loyalitätsvorwürfe und Schuldzuweisungen werden reichlich ausgetauscht, seine Mutter ist ausser sich vor Kummer, obgleich der Ausgrenzung, die sie ihn hatte erfahren lassen. Wenn sie doch gewußt hätte, dass er so jung würde sterben müssen …

Klara träumt unterdessen noch immer ihren Traum und will unbedingt das Zaubern lernen. Sieht sich in einer Manage mit waghalsigen Nummern ohne Netz und doppelten Boden. Erst einige Zeit später, als sie mit ihrem noch minderjährigen Bruder Simon zusammen Hals über Kopf nach San Franzisko aufbricht, wenn man ehrlich ist, war sie sogar die treibende Kraft gewesen, findet sie heraus, dass sie eine Großmutter hatte, deren Vornamen sie trägt und die bei einer Drahtseilnummer über dem Times Square tödlich verunglückte. Wenn das kein Zeichen war!

Klara wird auf der Bühne zur “Immortalistin” – in diesem Gewand, den Körper drehend wie ein Glitterkreisel, nur gehalten von einem Mundstück, am Ende dann leider ein Sturzflug, der sie erst einmal ins Krankenhaus bringt und doch war aufgeben nie eine Option, mit einem Partner und der richtigen Ausrüstung wäre alles möglich …

Mit Mann, Wohnmobil und Kleinkind auf erfolgloser Casino-Tournee. Dem Alkohol, respektive dem Wodka hatte sie nur während der Schwangerschaft entsagen können, jetzt hing sie wieder an der Flasche, genoss den Realitätsverlust, wußte ihre Sucht geschickt vor ihrem Mann zu verbergen, von dem sie sich getrieben fühlte, zu einem Glitzerleben in Las Vegas, dass sie so für sich nie gewollt hatte. Ihrem eigentlichen Ziel, mit Magie zu verzaubern fühlte sie sich weiter entfernt denn je, innerlich zerfiel sie mehr und mehr.

Und dann diese Klopfzeichen, Nachts, in denen sie ihren toten Bruder Simon zu erkennen glaubte. Mittels Zeitmessung versuchte sie Buchstaben, Worte aus ihnen zu lesen. Immer mehr empfand sie sich als Bindeglied zwischen den Welten und sie triffte unterdessen unaufhaltsam auf den Tag zu, den die Wahrsagerin IHR damals als Todestag bestimmt hatte …

Als Daniel sich entschließt Mira zu heiraten waren alle verblüfft. Diese Frau, die so gar nicht zu dem rationalen Arzt zu passen schien. Vielleicht lag es ja an der Verhaltensähnlichkeit zu seiner verstorbenen Schwester Klara, die Daniels Frau Mira nie kennengelernt hatte. Wie ähnlich sie ihr war, mit dieser offensichtlichen Lust an der Provokation. Sollte sie für Daniel nach Klaras Tod ein neuer Anker werden?

Beruflich und finanziell wird es eng als Daniel, nach dem Medizinstudium zum Militärdienst wechselt, man ihn dort verleumdete und vom Dienst freistellte und sich Jahre nach Klaras Tod plötzlich ein FBI Beamter bei ihm meldete, der im Fall von Klaras Tod damals ermittelt hatte. Was konnte dieser jetzt, fast fünfzehn Jahre nach Klaras Beerdigung noch wolle? Die Situation droht zu eskalieren und Daniel, jetzt knapp fünfzig, fasst einen verhängnisvollen Entschluß  …

Undlast but not least, Varya, die seltsam Distanzierte, die jahrelang keinerlei Berührung duldet, keine Umarmung, sie sieht die Welt anders, gegenständliches und alltägliches bereiteten ihr oft Angst.

Sie lebt ohne Kind und ohne Partner, trotz ihrer im Erwachsenenalter diagnostizierten Angststörung vor Keimen und Krankheiten beginnt sie im Rahmen der Altersforschung ein Projekt mit Primaten. Ein kleines Äffchen namens Frida, wird ihr zum Bezugspunkt und sollte fortan ihr Schicksal bestimmen. Über Jahre hinweg hält sie einen Selbstversuch durch, in dem sie sich genauso ernährt wie die Äffin. Sie magert ab, verändert sich auch im Verhalten. Gefährdet am Ende aus Mitleid eine auf zwanzig Jahre ausgelegte Studie und verliert ihren Job, ihr Ansehen der ihr Beitrag in der Welt hätte werden sollen …

Vier Leben – vier Träume, ein Verhängnis. Eine Geschichte wie ein Tanz mit dem Tod. Die Leben der Gold Geschwister greifen ineinander, wie die Finger einer Hand, eng und verschränkt. Wie sich so Zwangsläufigkeiten entwickeln und eine schicksalhafte Unabwendbarkeit sich eines jeden bemächtigt ist erschreckend und aufrührend. Abhängigkeiten treten zutage, die man so als Leser vorher gar nicht gesehen hat, da ergeht es einem ebenso wie den Hauptfiguren. Man fühlt sich ihnen ausgeliefert.

Die Unterschiedlichkeit der Geschwister ist wunderbar getroffen, gleich ob Träumerin, Lebenshungriger, Pragmat oder Realistin.

Würde man risikobereiter leben mit dem klaren Blick auf den eigenen Todestag? Was wäre, wenn man Ihn vielleicht sogar selbst herbeiführt, damit das Warten auf ihn endlich vorbei ist? Für diese Fragen, die die Autorin ungeschrieben aufwirft mag ich diese Geschichte besonders. Immer wenn sie verstummt, summte es in meinem Kopf weiter – das macht einen guten Roman für mich aus!

Am Ende tritt dann eine Logik aus der Deckung die verblüfft und die beschworene Magie zerstiebt wie ein Funkenregen, oder glimmt da doch noch ein Fünkchen im Verborgenen? Will man nur glauben, was man beweisen kann und was ist schließlich und endlich beweisbar?
Eine Geschichte wie der Kreislauf des Lebens, die mit vier Geschwistern beginnt, die ihren Einstieg, ihren Weg ins Leben suchen und die mit der nächsten Generation endet, die zu beweisen versucht, das man alle Vorsehungen abschütteln und selbstbestimmt was man sich auch immer vornimmt umsetzen kann …

Die Hörbuch-Fassung (leicht gekürzt mit 11h 20 min) wird einfühlsam gelesen von Grimme-Preisträger Wolfram Koch, den ich schon aus der schwedischen Krimi-Reihe von Lars Keppler, sowie von Ian McGuires Nordwasser kenne und für seinen stets leicht unterkühlten und doch empathischen Vortrag sehr verehre. Man kennt ihn aus verschiedenen Fernsehrollen, er arbeitete u.a. am Schauspielhaus in Frankfurt und am Deutschen Theater in Berlin. Hier stellt er einmal mehr seine stimmliche Wandlungsfähigkeit unter Beweis und hat mich jetzt gänzlich für sich eingenommen!

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