Die Markierung (Frída Ísberg)

Lederjackenwetter heißt einer ihrer ausgezeichneten Gedichtbände, wo sie u.a. über Augen- und Angstmaß, Schatten und das Licht im Juni schreibt, dass als platzfreches Kind das ganze Bett für sich einnimmt. Es sind diese Bilder, die ihre Lyrik ausmachen, die auf ein strenges Versmaß verzichtet, dafür genau beobachtend und raumgreifend ist. Wie in ihren Gedichten:

Wachstum

Der Mensch wächst nicht wie ein Baum,
sondern wie eine Wiese.
Mir wuchs ein Wortschatz, Zuneigung, Fingernägel, Haare, Zweifel
Selbstvertrauen und Verzweiflung bildeten zusammen einen Spiegel
und der Spiegel wuchs wie ein silbrig schuppiger Fisch am Rücken,
Wie eine Mauer um ein Reich
Oder Stacheldraht um eine Weide
Jakobsmuschel

Ich spürte es am Psst, das Empfindsamkeit eine Schwäche ist, 
etwas das man versteckt,
So versteckte ich sie, nicht wie Süßigkeiten um sie später zu essen,
Sondern wie eine blassbleiche aderblaue Jakobsmuschel, 
die nicht zerbrechen darf

Diese poetische Empfindsamkeit findet sich auch in <Die Markierung>, dem aktuellen Roman der isländische Autorin Frída Ísberg, der bei Hoffmann und Campe erschienen ist, ich bedanke mich an dieser Stelle für das Besprechungsexemplar. Sie zeichnet hier das Bild der isländischen Gesellschaft in einer möglichen Zukunft, schafft eine dystopisch bedrückende Atmosphäre, die dabei so nachvollziehbar und glaubwürdig ist, das mich gruselt.

Was hier vielleicht einmal gut gemeint war, einer Idee entsprang die durchaus Positives bewirken wollte, läuft aus dem Ruder und gewinnt an Eigendynamik, wie es gemeinhin mit Ideen so ist, die zu Ideologien werden …

Die Markierung von Frída Ísberg

Als die Lage eskaliert ist es Freitag. Etwa fünftausend Demonstranten haben Aufstellung vor dem Parlament genommen und skandieren den Namen eines jungen Mannes. Er hatte sich tagszuvor umgebracht. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren hatte er keine Perspektive mehr gesehen, so seine Familie. Alkohol und Drogen hatten sein Leben bestimmt, nachdem er vor vier Jahren durch DEN Test gefallen war.

Am Montag danach gab es noch einen Toten. Einen Polizisten. Der verletzt worden war bei den Protesten. Der Schock saß tief in den Knochen der Nation. Die Markierungspflicht war als gute Idee gehandelt worden. Als man begann, gingen Gewaltverbrechen zurück, Wohnviertel wurden sicherer, Einbrüche nahmen ab. Jetzt aber schien sich das Blatt zu wenden. Diejenigen, die durch den “Empathietest” fielen, damit zu immerwährender Therapie oder einem Leben im Abseits verdammt waren, begehrten auf. Es waren vor allem junge Männer, die die Chancengleichheit nicht mehr gewahrt sahen, viel mehr Frauen gab man jetzt den Vorrang, ging es um beruflichen Aufstieg oder soziale Einbindung. Der emanzipatorische Gedanke verkehrte sich …

Frída Ísberg, geboren am 19. Dezember 1992, wurde mit ihrem Debütroman Die Markierung mit dem Literaturpreis des isländischen Buchhandels und dem Optimist Award ausgezeichnet. Letzterer wird alljährlich an einen bedeutenden Künstler des Landes verliehen. Tina Flecken, die für ihre Arbeiten den isländischen Übersetzungspreis erhalten hat, übertrug ihren Roman ins Deutsche, der für mich inhaltlich wie stilistisch etwas ganz besonderes ist. Er holt eine Zukunftsvision so nah an mich heran, dass ich mir immer wieder die Augen reiben musste.

Dieser Plot treibt mich, und bin ich Eingangs noch über die mir fremden und zahlreichen Namen gestolpert, war ich ganz schnell gefangen im Strudel der Ereignisse. 

Wie weit darf ein Staat gehen? Was gesetzlich verankern? Wo beginnen und wo enden Freiheitsrechte?

Zwei Frauen, Eyja und Vetur, und zwei Männer, Tristan und Ólafur, um sie kreist Ísbergs Geschichte im Kern. Von der ich nicht zuviel Details verraten möchte, weil hier arbeitet es intensiv zwischen den Zeilen und das zu erleben fand ich grandios.

Ein Empathietest soll im Island der Zukunft dazu beitragen eine gewaltfreie Gesellschaft zu schaffen. Jeder der ihn besteht versichert damit anderen in der Gemeinschaft, dass man ihm/ihr vorbehaltlos vertrauen kann. Man lässt sich “markieren” um diese Auszeichnung sichtbar für andere zu tragen. Ganze Stadtviertel entstehen in denen nur noch Markierte wohnen können und auch beruflich hat man bessere Aufstiegschancen kann man den Test als bestanden nachweisen. Man ist kurz davor den Test als gesetzlich verpflichtend zu verankern, auch schon für Kinder, nicht nur ab 18, da regt sich Widerstand, der sich erstmals auch mit Gewalt Bahn bricht …

Man spürt die Lyrikerin in Ísbergs Text, sehr mochte wie sie den Erzählton bei ihren Figuren jeweils anpasst und wechselt. Man braucht die Querverbindung zu ihren Gedichten nicht, aber ich fand es schön zuvor ihren lyrischen Ton im Ohr gehabt zu haben. Auch die Themen, auf die sie in ihren Gedichten schaut, diesen sehr gegenwärtigen Blick, konnte ich in ihrem Roman spüren, in den sie zahlreiche Dialoge, Briefwechsel, Social Media Kommentare eingearbeitet hat, der sehr modern ist, ohne konstruiert zu wirken, im Gegenteil alles fließt, eines führt zum anderen, er ist sehr abwechslungsreich und keine Sorge, nicht zu poetisch geraten.

Tina Flecken als ihre Übersetzerin greift das perfekt auf. Beiden gelingt eine Stimmung die bedrückend wirkt und die mir permanent das Gefühl vermittelt, das kann alles nicht gut ausgehen. Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Perspektiven, Protagonist um, Protagonistin erzählt, grundunterschiedlich sind sie als Figuren angelegt, agieren zunächst völlig getrennt von einander, als Individuen einer Gesellschaft, bis sie sich verbinden, verbunden werden, sehr geschickt und logisch. So entsteht ein vielschichtiger Blick auf dieses Regierungsvorhaben und seine Auswirkungen. Als sehr nahbar habe ich dabei das Romanpersonal empfunden, sein inneres Ringen, den Aufschrei der Massen, den es in den unterschiedlichsten Ausprägungen gibt.

Auch fand ich, das Ísberg um ihre Weltenzeichnung kein großes Brimborium macht und es braucht sie auch nicht, sie katapultiert uns mitten hinein in diese Zukunft, konfrontiert uns mit dem was hier als das neue “normal” gilt und fertig. Das hat etwas so selbstverständliches, das die Realitätsnähe ihres Szenarios dadurch nochmals einen Boost erfährt.

Vertrauen heißt an Menschen glauben. Vertrauen ist nicht Sicherheit. Sicherheit ist Sicherheit.

Textzitat Frída Ísberg Die Markierung

Manipulation? Gefälschte Testzertifikate werden gehandelt. Nicht jeder zum Fachmann erklärte ist auch vom Fach. Ein ganzes Volk in Psychotherapie, entsprechend hilfreiche Medikamente hat man schnell zur Hand. Am besten fängt man früh an. Kinder sind ja noch formbar.

Die Furcht vor der Furcht besiegt man nicht durch sich wegschliessen. Unter seines Gleichen.

Ein Wort Wechsel zeigt wo der Hase im Pfeffer liegt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Dann kommt der Wahltag und ich stehe auch nach dem Ergebnis noch da mit meinen offenen Fragen. Die Autorin will das so. Was mehr als bemerkenswert ist.

Was macht uns aus? Was geht in uns vor? Wozu sind Staatenlenker fähig?
Was hält uns, unsere Gesellschaften, zusammen?

Diese Geschichte geht ins Eingemachte. Hängt mir lange nach. Habe ich während des Lesens zwischen den Zeilen gegrübelt, tue ich es danach immer noch.

Nicht jedes Risiko ist kalkulierbar. Ich schwanke, finde das Verhalten, das Vorhaben dieser Regierung und ihrer psychologischen Sachverständigen mal anmaßend, mal resigniere auch ich. Dieser Test verursacht mir Bauchschmerzen, die vermeintliche Sicherheit die er bietet Kopfzerbrechen. Gerne hätte ich gesagt, in einer Demokratie geht das niemals durch. Aber. Haben wir nicht alle in den vergangenen Monaten, Jahren, erlebt wie schnell und tiefgreifend sich unser Leben aufgrund staatlicher Anordnung verändern kann? Dieser Vergleich drängt sich mir auf. Ist vielleicht auch gewollt.

Mir gefällt sehr was Frída Ísbjerg da wagt. Wie sie zusammenführt was zusammengehört, wie sie das Verhängnis verhängnisvoll sein lässt. Die Konsequenz konsequent. Sie entwirft eine Zukunft, die mir nicht weit entfernt vorkommt und irgendwie auch unausweichlich. Unser Bedürfnis nach Sicherheit wächst dieser Tage, die hier aufgezeigte Methode erscheint alles andere als abwegig, aber fragwürdig und kein Zweck heiligt das Mittel. Niemals …

Eine vertrauenswürdige Brücke ist eine sichere BrückeMenschen sind keine Brücken. Menschen sind unterschiedlich starke Schnüre.

Textzitat Frída Ísberg Die Markierung

Klare Empfehlung von mir für das Lesen dieses außergewöhnlichen Textes und wer auf Ísbergs Gedichte einen Blick werfen mag, der klickt hier:

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