Die Harpyie ist ein Greifvogel, einer der größten, vielleicht der größte überhaupt, mit seiner Flügelspannweite bis 2 Meter. Physisch stark, bis zu 9 Kilo schwer, jagt er in den Wäldern Mittel- und Südamerikas, und ernährt sich vorwiegend von Faultieren und Affen. Sein Name, entlehnt aus der griechischen Mythologie, steht für den Schrecken. Für die Griechen war eine Harpyie ein Dämon des Sturms, mit dem Körper eines Greifvogels, Flügeln und dem Kopf einer Frau, der über sie kam und ihre Nahrung und ihre Kinder stahl …
“Im Blut meiner Familie fließt Wut, diese Wutspur reicht von meiner Urgroßmutter zu meiner Großmutter, zu meiner Mutter, bis zu mir. “
Textzitat Megan Hunter Die Harpyie
Die Harpyie von Megan Hunter
Es ist Abend geworden, in einer Kleinstadt in England, in einem der wohlhabenderen Viertel. Wie an jedem Tagesende, wird hier auf den Vater gewartet, versorgt eine Mutter ihre beiden Jungs, die sich vor dem Fernseher eingerichtet haben. Nur diesmal klingelt das Telefon und es ist nicht ihr Mann, der sagen will, das er einen späteren Zug nehmen wird. Wieder einmal. Es klingelt einmal. Sie verpasst den Anruf. Dann noch einmal, eine unbekannte Nummer auf dem Display. Sie nimmt ab und mit dem nächsten Satz zerplatzt ihr Familienidyll. Jetzt weiß sie es. Jetzt kennt sie den Grund, der ihn immer die späteren Züge nehmen lässt. Als hätte sie es nicht längst geahnt …
“Wir hatten schon lange nicht mehr zusammen gelacht. Waren nicht einmal in die Nähe gemeinsamen Gelächters gekommen.”
Textzitat Megan Hunter Die Harpyie
Sie hatten sich geeinigt. Er würde nicht wissen wann es geschah. Sie schon. Er würde nicht wissen was geschehen, oder wie es sein würde. Sie schon. Dreimal. So oft durfte sie ihn verletzen. Das Überraschungsmoment ausnutzen, sich rächen. Das war die Abmachung …
Megan Hunter, geboren 1984 in Manchester, studierte britische Literatur und lebt heute mir ihrer Familie in Cambridge. 2017 erschien ihr erster Roman “Vom Ende an“, zuvor stand sie schon mit ihrer Lyrik auf der Shortlist des Bridport Prize.
Eine Lyrikerin übt sich in Rachephantasien und geht der Frage nach, ob jene welche heilsame Effekte haben kann. Dafür nimmt sie sich ein Ehepaar vor. Er betrügt sie. Nicht neu. Nicht originell. Könnte man denken.
Der Deal, der hier dann allerdings geschlossen wird und die eingebundenen genreübergreifenden Elemente der Phantastik, lösen bei mir nicht nur das Versprechen ein, das mir bereits Titel und Buchcover gegeben haben, sie lösen auch einen ganz schönen Gefühlswirrwarr aus.
Das Versprechen, das mich hier ganz und gar gegensätzliches erwarten wird. Die Grausamkeit der Schönheit. Wahn und Wirklichkeit. Denn wo Licht ist, ist immer auch er. Der Schatten. Wo Liebe ist, immer auch ihr Gegenteil. Zögernd und hastig zugleich, hatte ich den Roman aufgeschlagen, ein bisschen ängstlich, aber auch neugierig, hatte ich zu lesen begonnen und wie mit einem Lasso fing mich die Geschichte ein, nicht zuletzt wegen der Übersetzung von Ebba D. Drolshagen, die hier den deutschen Ton hervorragend trifft.
Den Ton einer Geschichte, die im Kern schnell erzählt ist.
Lucy ist eine Frau in ihren Dreißigern, durchschnittlich aussehend, wird betrogen und beschämt, unterschätzt und wir lernen, eine Harpyie ist eine Expertin im Stehlen und offenbar ihr Lieblingstier.
Ihr Ehemann, ist einer von denen, über die wir Bescheid zu wissen glauben. Einer, der das Abenteuer sucht. Dem Familie, Kinder und Frau zu wenig sind. Einer, den die Kollegen schätzen, dem sie das nie zugetraut hätten.
Es ist aus, sagt er. Mag sein. Es war nur Sex, sagt er. Ein Satz wie aus einer ihrer Fernsehserien. Wenn Vertrauen zerbricht, reicht eine Entschuldigung nicht immer aus. Verletzt und gedemütigt, arbeitet sich im Falle von Lucy eine ganze Menge unterdrückter Wut an die Oberfläche.
Dieser Mann. So verletzend. Diese Party. Überflüssig. Die Schadenfreude. Nicht zu übersehen. Diese Reaktion. Notwendig?
Alle wissen sie Bescheid, oder doch nicht? Diese Scham. Dieser Zorn. Beides rasend. Beides unbändig.
Hier schnappt man nach Luft, mit der Protagonistin. Gierig. Leidet an ihrem Mangel.
Vorgetäuschte Heiterkeit. Sich zu betrinken hilft nur kurz. Die Schmach dauert länger. Nur Vergangenheit. Keine Zukunft. Lügen und Halbwahrheiten, so viele Versionen der immer selben Geschichte. Mitleid und Tränen.
Alle haben es kommen sehen. Sagen sie. Fürchten die Wahrheit. Nichts wissen sie. Nichts.
Eine Ahnung beschleicht mich, das Unterschwellige ist es, das mich immer weiter verstrickt, ich merke wie sich mir die ganz feinen Härchen aufstellen …
“Hier, denke ich, wird mich die Schwerkraft endlich loslassen. Ich werde nach oben fallen und voran: Ich werde in die Sterne stürzen.”
Textzitat Megan Hunte Die Hapyie
Megan Hunter hat mit der Figur ihrer Lucy eine Heldin erschaffen, in die man viel hinein deuten kann. Schicht um Schicht legt sie eine Frau frei, die bereits als Kind eine seltsame Faszination für die Harpyien, diese geflügelten Unheilsbringer, entwickelt hat. Eine Faszination, die sich bei ihr als Erwachsene geradezu wahnhaft auswächst.
Als ihr Mann sie hintergeht, erleben wir im Text eine geradezu wahnhafte Zuspitzung, die in/mit einem fragmentarischen Satzfeuerwerk endet. Ein Finale, das Lyrikherzen höher schlagen und Thriller Fans vermutlich irritiert zurück lässt. Nicht zuletzt weil viele Fragen offen bleiben, weil eine Metamorphose wie sie hier erlebbar wird, verstörend ist.
Durch die Brille der Ratio blinzelnd sollte man diesen Roman daher eher nicht lesen, Rache hin oder her, man würde ihm damit nicht gerecht werden. Es spielt sich viel düsteres zwischen seinen Zeilen ab, vielleicht auch schizophrenes, und wer nur nach dem logisch Nachvollziehbaren sucht, wird sich wahrscheinlich kopfschüttelnd, oder empört abwenden. Wer hingegen die dunkle Seite, die in uns allen schläft akzeptiert, wird hier erkennen wozu sie befähigen, wie irrational, und beinahe hypnotisch sie auf uns einwirken kann. Uns zu Handlungen verleitet, die wir am Ende nicht mehr in der Hand haben …
“Rache ist süß”, sagt man so. Auf die Bibel geht dieses Sprichwort zurück, im 5. Buch Mose, Kapitel 32 steht, “Die Rache wird gut schmecken”. Es ist nicht der einzige Bibelsatz, der mit den Jahren eine andere, eine neue Auslegung erfahren hat. “Auge um Auge, Zahn um Zahn” etwa, entstammt einem alttestamentarischen Rechtssatz der lautet: Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn …”. In der weiteren Aufzählung folgen noch etliche Körperteile, von Vergeltung ist allerdings nicht die Rede und das mit der Rache, hätte die Heldin in Megan Hunters Geschichte besser auch nicht als Aufforderung verstehen sollen, denn anders als es das Sprichwort vielleicht suggeriert, bleibt keine Handlung je ohne Folgen, am wenigsten für den Handelnden selbst …
Einen interessanten Stil wendet Megan Hunter an um uns diese Geschichte zu verpacken. Andeutungen mischt sie mit Beobachtungen, stellt sie ihren Kapiteln kursiv gedruckt voran, damit wir wissen, das wir uns gerade in einer Gedankenwelt befinden. In wessen, das lässt sie indes offen, aber sie entpuppt sich als Beobachterin der nichts entgeht. Ein wenig erinnert mich ihr Erzählton an den alter Schauerromane, aber er ist um einiges eindringlicher und das diese Autorin mit Lyrik umgehen kann ist gewiss.
Hunter hat mich überrascht, vorwiegend stilistisch. Einen Rache-Thriller hatte ich erwartet, aber ihre Harpyie geht tiefer, wütet in der Seele ihrer Hauptfigur und wühlt dabei nicht nur sie auf.
Das auf nur 227 Seiten, nicht alle davon sind dicht bedruckt, und warten mit einem Rätsel, mit einem rätselhaften Schluss auf. Und mit Wahnsinn, der mit Flügeln und mit Klauen bewehrt, schon immer in der Ecke gesessen haben muss, lauernd und kampfbereit.
Wer offene Enden und lose Fäden mag, für wen es ein bisschen psychotisch sein darf, und ausgefallen, wer gerne in den Schatten unterwegs ist, und wer meint jetzt einen Flügelschlag zu spüren, einen Hauch, der muss dieses Buch lesen. Wer neugierig ist, sowieso und wer ängstlich ist, – der lässt am besten das Licht an …
Mein Dank geht an den C.H. Beck Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
Schreibe den ersten Kommentar