Die Einsamkeit der Seevögel (Gohril Gabrielsen)

*Rezensionsexemplar*

Donnerstag, 10.10.2019

Reisen ohne die Koffer zu packen. Meinen inneren Kompass habe ich nach Norden ausgerichtet. Ich schließe meine Augen, sehe sie vor mir, die Gletscher und klaren Fjorde. Die Wolken, die sich in ihnen spiegeln. Die Berge, das Blau, spüre den Wind, der kühl über mein Gesicht streicht, während ich am Ufer stehe. Die ersten Worte dieses Hörbuchs, und jetzt wo der Herbst um unser Haus schleicht, man im gefrorenen Gras am Morgen schon eine Ahnung vom nahenden Winter hat, entführen mich und ich bin von jetzt auf gleich weit weg. Ganz weit …

“Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer grenzt jäh an Klippen und Berge. Zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm.” (Textzitat)

Die Einsamkeit der Seevögel von Gohril Gabrielsen

Die Wellen brachen sich hart an den Felsen, die das Meer hier begrenzten. Eine dunkle bedrohliche Färbung hatte es angenommen. Sein Dröhnen war weithin zu hören. Auf Schneeschuhen war sie unterwegs, mit schweren Schritten, durch schneidende Kälte, hinweg tauchend unter Graupelschauern. Es war Anfang Januar, hier am nördlichsten Zipfel des norwegischen Festlandes. Sie war allein hier, allein mit den Stürmen, dem Schnee, inmitten dieser spektakulären Kulisse, rund einhundert Kilometer entfernt von der nächstgelegenen Ortschaft.

Jetzt galt es sich erst einmal einzurichten, erst die Hütte, dann die Messeinrichtungen um die Wetterdaten zu erfassen, die es für ihre Forschung brauchte, bis in etwa vier Monaten die Seevögel hier an Land kommen würden. Welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Seevögel hatte, auf ihre Wanderungen, ihre schwindenden Bestände, das wollte sie mit ihrer Feldarbeit dokumentieren.

Meerestemperatur, Luftdruck, Niederschlagsmengen, das alles waren  Fakten mit denen sie gerne umging. Alles was greifbar war lag ihr. Mit den eher soften Faktoren hingegen, der Gefühlswelt, hatte sie so ihre Probleme. Mit sich und Jo, der hoffentlich bald herkommen und sie unterstützen würde …

Mit Gohril Gabrielsen, die in der Finnmark/ Norwegen aufgewachsen ist, wo auch ihr Roman “Die Einsamkeit der Seevögel” spielt, habe ich in diesem Jahr eine weitere mir noch unbekannte norwegische Autorin kennengelernt, für die ich froh und dankbar bin. Dies ist ihr erster Roman der in deutscher Übersetzung erhältlich ist und die hat es in sich, wie ich finde. Da ich leider kein Wort norwegisch spreche, kann ich nicht ermessen wie gut im Vergleich zum Original die deutsche Übersetzung gelungen ist. Die Worte und Satzbilder, die die Übersetzerin Hanna Granz gewählt hat, sind für mich grandios. Poetisch und fein ist diese Geschichte von ihr ins Deutsche übertragen worden. Diese Geschichte, die erfüllt ist von einer tiefen Sehnsucht, von einer Sehnsucht nach Zuwendung und Geborgenheit, von einer Sehnsucht nach Selbstbestimmtheit und Freiheit. Wer von uns teilt diese Träume nicht. Ist nicht glücklich, wenn er sie für sich erfüllt sieht …

Atmosphärisch dicht und wunderbar bildhaft beschreibt die Autorin die nordische Landschaft, die sich mit ihrer widerspenstigen Schönheit, den Menschen die sie zu bezwingen suchen, in den Wintermonaten mit Kälte und Schroffheit in den Weg stellt.

Sie erzählt von eintönigen Tagen mit alltäglichen Verrichtungen, in denen sie ihre Heldin auf sich selbst zurück wirft, freiwillig hat sie sich herausgelöst aus der Zivilisation. Will lieber auf einem Schneemobil durch die Landschaft und vor ihren Problemen davon jagen. Die Kälte wie Nadelstiche auf der Haut spüren, sich lebendig fühlen. Berge von Schnee schaufeln, Holz hacken und Kletterpartien auf nackten Felsen absolvieren, die Ledermütze tief ins Gesicht gezogen.

Akribisch sind ihre Beobachtungen von Bewölkung und Gestirnen. Zwei Achtel, fünf Achtel des Himmels sind bedeckt, mit Federwolken, mit Schleierwolken. Sie folgt dem Licht zerbrechlich wie Glas, verweilt in rauen Nächten, in Gedanken bei ihrer kleinen Tochter, mit der sie sich innig verbunden fühlt, die sie zurückgelassen hat, für diese Monate hier in der Einsamkeit. Für ihre Arbeit. 

“Was sie einatmet, atme ich aus. Was sie aufnimmt, gibt sie an mich weiter. Wir sind einander Herz und Lunge, aber auch der Anderen Schatten. Sehe ich mich selbst in ihr? Oder sie sich in der, die ich bin?” (Textzitat)

Eine stürmische, eine wütende Trennung von ihrem Exmann war vor einem Jahr ihrem Aufenthalt hier vorausgegangen. Eine Trennung wegen ihm, wegen Jo, auf den sie jetzt hier wartete und er ließ sie warten, zögerte seine Ankunft immer weiter hinaus …

Während des Wartens drängen sich lebendige Bilder einer vergangenen Zeit, an einstige Bewohner dieses Landzipfels in die Geschichte. Die Szenen die jetzt vor mir aufziehen sind so dramatisch wie die Landschaft wunderschön ist, die in ihrer Kargheit liebevoll von Gabrielsen beschrieben wird. Sie macht mich neugierig auf diese Vogelforscherin. Auf die Gründe, die sie wirklich her geführt haben, die sie versteckt, wie ein Kind die Hände hinter dem Rücken, wenn es unerlaubt eine Süßigkeit ergattert hat. 

Sprengkraft war angekündigt für diesen Roman und wahrlich, die hat er auch! Diese Geschichte von Licht und Träumen, die morgens in der Kälte des Zimmers klirrend zerspringen. Von Ahnungen, die sich bestätigen, die sich auf dem Boden des eigenen Unterbewusstseins geduckt zusammen gekauert haben. Eine Geschichte von Vorwürfen und Verzweiflung. vom Warten und von Versprechen, die der andere erfüllen wollte. Von der Erkenntnis, die allmählich einsickert, zäh wie Sirup, dass es beim Versprechen bleiben könnte. 

Umgeben von eiskalten Polarnächten und schlängelndem Nordlicht, mit einem Gefühl wie eingekapselt sein in eine Raumstation, in der die Zeit unendlich langsam verstreicht. 

Von Drohungen, denen man nachgibt, vom Ehrgeiz als Triebkraft. Von Möwengeschrei und Flügelschlagen. Bei Windstärke zehn, ein Sturz, zwei, drei Meter tief. Eine Verletzung, die ein Fieber bringt. Erinnerungslücken und Verwüstungen. Kurze Tage und lange Nächte. Ein Ort, den man als Zuflucht gewählt hat wird zum Gefängnis. Nicht jede Seele ist zum Eremiten bestimmt und die Angst steigt immer vom Bauch aus auf …

“Die Dunkelheit ist wie Erde. Ich grabe mich weiter voran, bis zu dem Punkt, an den ich bei Tag, in der leichten Durchsichtigkeit der Dinge selten komme”. (Textzitat)

Traumbilder verwischen die Grenzen zwischen Realität und Wahn. Gegenwart und Vergangenheit. Es geht um Macht, es geht um Liebe, und dann erreicht man dieses Ende. Wenn man liest nach 174 Seiten, im Hörbuch nach 287 Minuten, die unter sich fortwährend aufbauender Spannung vergehen wie im Flug. Einsam, aber mit dem Gewehr im Anschlag treten wir mit unserer Heldin vor die Tür ihrer Hütte. Verlassen den geschützten Raum und meine Fantasie geht mit mir durch …

Jutta Seifert, Schauspielerin und Sprecherin für Rundfunk, Synchron und Hörbuch liest die ungekürzte Fassung. Es ist mein erster Kontakt mit ihr. Ihre ruhige, getragene, ja sachlich Art des Vortrages passt sehr gut zu Gabrielsens Geschichte. Sie nimmt sich zurück, um der grandiosen Natur Raum zu geben. Die Figur in diesem Natur-Kammerspiel glänzen zu lassen. So entsteht eine Einheit aus Text und Sprache, der ich sehr gerne und gebannt gelauscht habe. Bitte gerne mehr von diesen beiden Damen, ich verharre derweil in gespannter Erwartung …

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    11. Oktober 2019

    Schön! Da freue ich mich, ein ganz besonderer Stoff ist das tatsächlich wie ich finde. LG von Petra

  2. Dorothee
    10. Oktober 2019

    Und SCHON wieder ein Hörbuch-Tipp! Klingt toll!
    L. G. aus Kiel von Dorothee

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