Der Stotterer (Charles Lewinsky)

*Rezensionsexemplar*

Donnerstag, 03.10.2019 

“Ich liebe Worte. Ich liebe es zu lesen,  und ich liebe es zu schreiben. Beim Schreiben stottere ich nicht. Win-win.” (Textzitat)

Wer ist nicht schon mindestens einem Menschen begegnet, der meint, einen besser zu kennen, als man sich selbst kennt? Ratschläge sind auch Schläge und er spart nicht mit ihnen, meint es ja gut. Dabei wäre man gerne so wie man ist, ohne es allen immer recht machen zu müssen. Wenn man Stärken in sich spürt, die man anderen noch nicht gezeigt hat. Die man sich auszuleben noch nicht getraut hat, die in einem inneren Gefängnis eingesperrt sind. Den Helden dieser Geschichte hat man weggesperrt. Einen Hemmschuh hat er hierher mitgebracht. Er stottert seit er sprechen kann. Warum und was er ausgefressen hat? Kommt, finden wir es heraus …

Der Stotterer von Charles Lewinsky

Zweieinhalb Jahre hieß es hier noch einsitzen. Auch bei guter Führung und er führte sich gut. Ging des Sonntags in den Gottesdienst, hielt sich auch sonst an die Regeln, an die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze hier drinnen. 

Als ihm der Gefängnisgeistliche, der Padre, wie sie ihn hier nannten einen neuen Job anbot, er solle die Gefängnisbibliothek übernehmen, der Häftling, der bislang die Buchausgabe verwaltet hatte, war entlassen worden. Fragte er sich wo da der Haken war. Die Anforderung der Gegenleistung folgte dann auch auf den Fuß. Seine Geschichte sollte er aufschreiben, für den Padre. Mit Worten könne er doch umgehen, schreibend zumindest, sie oder dieses Talent hatten ihn ja wohl hierher geführt.  

Es verwischen sich alsbald schon die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Erfindung und Erlebtem in den Texten des Stotterers. So haben sie schon immer nach ihm gerufen und so halten sie es auch hier im Gefängnis. Er klingt ironisch und irgendwie entrückt, wenn er erzählt, als wäre er einen Schritt zurück getreten um sein Leben mit Abstand zu betrachten. Wir dürfen Mäuschen spielen bei diesem Brief- und Geschichtenwechsel der jetzt beginnt und einzig aus der Perspektive dieses Häftlings entsteht …

Charles Lewinsky, wurde 1946 in Zürich geboren, der Dramaturg und Regisseur arbeitet seit 1980 als freier Schriftsteller. Nach der Geschichte ist vor der Geschichte! Zum Glück habe ich noch einen Lesevorrat von Herrn Lewinsky in meinem Bücher-Regal, auf den Titel “Andersen” freue ich mich nach diesem erlauschten Roman umso mehr.

Lewinsky führt eine spitze, eine provokante Rede, brennt gänzlich unangestrengt ein wahres Satzfeuerwerk ab. Lässt seinen Ich-Erzähler bisweilen zynisch erzählen, mit staubtrockenem Humor, mittels der Tagebuch-Einträge und Geschichten, die er für den Gefängnisgeistlichen schreibt. Sie handeln von Eltern, Geschwistern, von richtig und falsch.

Ein geprügeltes Kind ist sein Protagonist, groß gezogen von einem handgreiflichen Vater, der die bloße Hand nie benutzte, sondern die unterschiedlichsten Gegenstände, vom Tennisschläger über den Bambusstock, und von einer verhuschten Mutter im Kreis einer tief religiösen Gemeinschaft. Doppelt gestraft mit seinem Stottern und seinem Namen “Johannes Hosea Stärkle”. Der als wahrer Wortjongleur auftritt, und bei Lewinsky kommt dieser Stotterer sogar eloquent rüber. Denn er gibt ihm ein alternatives Ausdrucksmedium an die Hand. Stattet ihn mit Pfiffigkeit aus. Führt ihn bis zur Teilnahme an einem Schreibwettbewerb. Die Geschichte, die er, Johannes respektive Lewinsky hierfür schreibt, hat es mir stilistisch sehr angetan. Diese kurzen Sätze, die sich ergänzen und gleichzeitig widersprechen. Das hat Klasse!

Poetisch, philosophisch – seinen Schopenhauer hat der Stotterer verinnerlicht und er bemüht ihn häufig. Bibelfest ist er dank frühester Prägung in der Kindheit, wo man ihm das Stottern mit Schlägen hatte abgewöhnen wollen. Es hatte nicht geklappt und auch wenn er sich mit seinem Sprachfehler in bester, in prominenter Gesellschaft befand, hatte es ihm doch so manchen Berufswunsch verstellt. Als Junge hatte er Pfarrer werden wollen, aber von der Kanzel herunterstottern, das ging nicht.

Gehänselt und mit Spitznamen bedacht wuchs er auf. Der “Stottotterer” nannten sie ihn und aus seinem Nachnamen Stärkle machte sein Erzfeind “Schwächle”. Das schrie nach Rache, und er rächte sich an seinem Klassenkameraden. Durchtrieben, trickreich und ok, gekonnt. Die Cleverness, die dieser Aktion zugrunde lag war dann wohl auch der Grundstein für die Betrügereien wegen der er jetzt einsitzt. 

Behandelt werden wie Aussatz, gemieden und tot geschwiegen. In geschlossenen Gesellschaften herrschen eigene Gesetze. Gleiches gilt für den Mikrokosmos Justizvollzugsanstalt. Boykott, Misstrauen und Argwohn blühen hier hinter schwedischen Gardinen.

Seelenheil, oder besser Seelenrettung. Siegel der Verschwiegenheit, die undicht werden. Ein Gefängnisaufstand und ein Toter, bei dem es nicht bleibt. Vertrauen gegen Vertrauen. Komplizenschaft und Schmuggel, ein Advokat zieht alle Register. Macht Vorschläge die man nicht ablehnen kann. Zum Glück haben Bücherwürmer in Krafträumen nichts zu suchen, so bleiben ihnen Unfälle der besonderen Art erspart. Der lange Arm des organisierten Verbrechens reicht auch bis hinter die Gitterstäbe. Johannes hat Angst. Angst vor ihm, vor diesem Advokaten, der ihm Aufgaben stellt, Aufträge erteilt und zum ersten Mal ist er froh, das er sich hinter seinem Stottern verstecken kann und nichts sagen muss. Besser man ist still, ganz still. Macht sich klein, ganz klein …

Johannes liebt Worte und er spielt mit ihnen, bildet Kunstwörter, feilt an ihnen. Verfasst Liebesbriefe im Auftrag und gibt die Antworten buchstäblich mit links geschrieben gleich mit. Er ist klug, weiß genau, was andere hören wollen und er versteht es sie genau dort abzuholen.

Von Elendsvampiren und Gesprächsrunden im Kreis berichtet er, von Selbstmorden aufgrund übelster Verleumdung. Da stockt auch mir die Sprache … Von Enkeltricks, ich nenne sie fiese Mitleidsmasche. Mensch, ist das gemein! Zu Fall bringt ihn dann Frau K. aus M.

“Erst hat man kein Glück und dann kommt auch noch Pech dazu.” sagt Johannes Hosea, der Unverwüstliche und fährt ein. Seine Vergangenheit erscheint mir finster und zwischen diesen Schatten, versteckt er auch heute noch seine Taten.

“Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen”.                                 Arthur Schopenhauer

Ihn zittiert unser Johannes ebenso gerne wie die Bibel und Schopenhauer passt hier immer.

Spitzfindig und mit stotterndem Gewissen, was ist das nur für Kerl. Unempathisch und soziopathisch? Gewissenlos und geldgierig, aber nicht unsympathisch, ein aufmerksamer Zuhörer, humorvoll und interessant mit all seinen Facetten. Gut, moralisch ist er wahrlich flexibel. Aber ist auch empfindsam, mit Verachtung kann er nicht umgehen.

Wo ihm beim Sprechen die Worte fehlen, fließen sie ihm beim Schreiben nur so aus der Hand, wenn er beschreibt, umschreibt, sich der Gaunerei verschreibt. Ich schüttle den Kopf über ihn, freue mich mit ihm, fühle mit ihm. Moment, belügt er mich jetzt etwa? Ich fasse es nicht, manipuliert er mich etwa?

“Die Wahrheit kann warten, denn sie hat ein langes Leben vor sich”.  Arthur Schopenhauer

Euch wünsche ich viel Spaß beim Kennenlernen dieses Schlitzohrs. Denn er hat doch ein Herz, oder etwa nicht? Vertraut auf ihn, er nimmt Euch an die Hand …

Robert Stadtlober, geboren 1982, arbeitet schon seit er elf Jahre als ist als Synchronsprecher. Als Schauspieler gehört er zu den preisausgezeichneten und 2016 wurde er auch für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert. Im Hörbuch kennengelernt habe ich ihn noch vor nicht allzu langer Zeit in Jocelyne Sauciers “Niemals ohne sie”. Da hatte er mich im Verbund mit zahlreichen hochkarätigen Sprecher-Kollegen schon beeindruckt.

Dieser beeindruckende Text hier ist seine alleinige Bühne und er füllt sie aus, das raumgreifend und ungekürzt. Er spricht mit dem ganzen Körper. Die Enttäuschung der Hauptfigur wütet er heraus. Glaubwürdig und sich ganz und gar mit ihr identifizierend. Wenn er den Advokaten spricht, die Stimme für ihn senkt, wird auch mir ganz bang …

“Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr mir nicht”.       Johannes 8,45

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    7. Oktober 2019

    Da könnte ich mir auch gut vorstellen! LG Petra

  2. Dorothee
    6. Oktober 2019

    Na, DAS wäre AUCH toll für mich als neues Hörbuch…danke für den Tipp!
    L. G. Dorothee

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert