Der Stich der Biene (Paul Murray)

Wer vermag sich am Ende noch zu erinnern wann etwas begann? Wann ein Streit etwa seinen Anfang nahm, was der eigentliche Grund dafür gewesen ist. Mit dem Vergehen der Zeit scheint genau das dann immer auch Unwesentlicher zu werden, einzig das man sich nicht versteht und nicht mehr verstehen will bleibt. In den besten Familien und Freundschaften gibt es dafür Beispiele, manchmal glätten sich die Risse wieder, manchmal nicht. Hätte es einen Punkt gegeben, diesen einen, wäre man da anders abgebogen, wäre dann das eigene Leben anders verlaufen? Was hätte man dafür verändern, was verhindern müssen? Hätte, hätte, Fahrradkette. Eine Umkehr gibt es nicht. In Paul Murrays mit Spannung erwartetem neuen Roman und für die darin agierende Familie ist das “Hätte” der Stich einer Biene. Vielleicht …

Der Stich der Biene von Paul Murray

Der letzte Schultag. Drei Wochen früher für sie als für die anderen. Ihnen sollte genug Zeit bleiben, sich auf die bevorstehenden Abschlussprüfungen vorzubereiten. Das schrie danach gefeiert zu werden. In ihrer Bar. Dem Gully. Cass und Elaine sind beste Freundinnen. Wobei, das glaube ich, Cass das viel mehr will. Sie bindet sich an die schöne Elaine, der im Teenageralter die Jungs schon folgen wie die Hündchen.

Aber nichts wollte passen an diesem Abend. Sie zogen weiter. Um die Häuser. Die beiden best buddies Cass und Elaine. Begegneten Richard. Irgendwo. Sie kannten ihn kaum. Immerhin hatte er ein Auto, einen alten Saab und eine Idee. Im Nachbarort hatte ein Vater kürzlich seine Familie getötet und dann sich selbst. Wäre ein Ausflug zum Tatort nicht, was? Cool?

“Sie rasten über die Stadt hinweg, weg von ihren eigenen Geschichten, weg von
allen, die sich an sie erinnern wollten. Sie waren niemand, sie waren zusammen, und sie waren am Leben, Leben, Leben.”

Textzitat Paul Murray Der Stich der Biene

Eine Prüfung. Vermasselt. Der Sommer in dem den Barnes das Geld ausgeht, ist der Sommer, den PJ, Cass Bruder mit Neville abhängt. Der Sommer, in dem ihm Füße bluten, weil ihm seine teuren Turnschuhe schon wieder zu klein geworden sind und er sich nicht traut, das seiner Mam zu sagen. Sie streiten nur noch, seine Eltern und sein Vater ist nur noch seltsam. Wofür braucht er eine “Festung” im Wald mit einer Eisenplatte als Tür?

Paul Murray, geboren 1975 in Dublin, Irland, studierte Englische Literatur und Creative Writing. Für seine Romane An Evening of Long Goodbyes, Skippy stirbt und Der gute Banker wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Stich der Biene stand 2023 auf der Shortlist des Booker Prizes, den An Post Irish Book Award 2023 hat er erhalten. Die Washington Post und New York Times befanden, The Bee Sting gehört zu den zehn besten Büchern des Jahres 2023. The Guardian meint gar: “Sie werden in diesem Jahr keinen traurigeren, spannenderen und lustigeren Roman lesen.”

Okay! So viel zu den Vorschusslorbeeren, im Verlag Antje Kunstmann, herzlichen Dank für das Besprechungsexemplar, ist seit heute, 14.03.2024 die Deutsche Übersetzung von Wolfgang Müller erhältlich, der mich tatsächlich meine Angst vor dicken Büchern hat vergessen lassen. Lange habe ich mit Vorliebe dicke Bücher gelesen, weil ich immer traurig war, wenn ich eines beenden musste, was mir gut gefallen hat. Mittlerweile fürchte ich, ein dicker Schinken könnte zu viele Längen haben, die mir zur Hürde werden und die mich sagen lassen, das ist nicht my cup of tea.

Was hat das Team Murray / Müller gemacht um mich am Lesen zu halten und wie dafür gesorgt, dass es genau diese Längen nicht hat, die man bei stolzen 700 Seiten erwarten könnte? Murray plaudert schlicht drauflos. Holt aus. Nichts verdient keine Erwähnung, Alltägliches trifft sich mit Tiefsinnigem. Episodenhaft führt er mich zurück in die Kindheit seiner heute erwachsenen Figuren, verhandelt dabei eine Menge Themen. Erzählt von Freundschaft, Übergriffigkeit, Dominanz, Erpressung, Queerness, Mobbing und Überforderung. Sein Personal kommt reihum zu Wort und so wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Wolfgang Müller greift den jeweiligen Ton der erzählenden Figur perfekt auf, egal ob jugendsprachlich und hormonell überschießend, oder etwa wenn Imelda, die Mam von Cass und PJ dran ist, dann fehlen im Text auch schon die Satzzeichen bis auf ! und ?. Sie redet ja schließlich auch ohne Punkt und Komma. Teilt einfach, muss einfach, jeden ihrer Gedanken teilen. Die schöne Imelda, die gar nicht schön aufgewachsen ist und für die ihr Äußeres Fluch und Segen zugleich ist. Immer schon gewesen ist. Die ganz schön gemein sein kann und ungerecht auch. Oder auch Dickie ihr Mann, der ungeliebte Sohn, der das vielleicht dunkelste Geheimnis hütet. Das alles ist unglaublich kurzweilig und unterhaltsam. Die Unterschiedlichkeit im Erzählton, der trotzdem einen gemeinsamen Nenner behält, nämlich einen liebevollen Blick auf die Figuren, die einem rasch ans Herz wachsen und die man gerne begleitet, fand ich großartig.

Murrays Geschichte empfing mich mit offenen Armen und umarmte mich fest. Sofort war ich mittendrin. Staunend schaute ich mich um und schon auf den ersten Seiten erfuhr ich, wie der Stich einer Biene, einen Tag zunichte gemacht hatte, an den hohe Erwartungen geknüpft waren. Ausgerechnet unter einen Hochzeitsschleier hatte sie sich verirrt, unter den von Imelda und zugestochen. Mitten auf ihr Auge. Eine optische Katastrophe für die Braut, die aber so scheint mir im Verlauf des Romans nur eine andere, ganz offensichtliche kaschierte.

Schauplatz ist Irland, ein kleiner Ort eine Autostunde von Dublin entfernt, wo der Vater von Cass seinen Autohandel während der Wirtschaftskrise in den Sand setzt, was ihm seine Frau nicht verzeiht. Nie verzeihen wird, wie es scheint. Den Wohlstand zu verlieren, zu erleben wie andere plötzlich auf einen herabschauten und wieder andere den ihren behalten, ist für sie nicht aushaltbar. Das man im Ort so reagiert wie man reagiert im Kontakt mit ihnen, mit Häme und Verachtung, sogar den eigenen Kindern den Umgang mit den Barnes verbietet, also im Fall von PJ ist das so, macht mich hellhörig. Da muss doch noch was anderes im Busch sein und genau das treibt mich in dieser Geschichte voran. Der Zufall spielt hier Schicksal und eine Bemerkung an einem Bartresen weist auf ein Geheimnis, das ganz offensichtlich keines ist, aber innerhalb der Familie wie eines gehütet wird. Die Kinder der Barnes schlagen unsanft auf dem Boden der Tatsachen auf. Offenheit der Eltern Fehlanzeige. Es gibt einfach Dinge, die man nicht bespricht. Oder man streitet. Vielleicht war es dieser eine Streit, der ihre Zukunftsweichen gestellt hatte. Der Streit zwischen Imelda und Frank, dem kleinen Bruder ihres Mannes.

Etwa in der Häftlinge des dicken Schmökers angekommen verbleibe ich noch immer in gespannter Erwartung der nächsten Erzählperspektive. Da geht noch was, bin ich mir sicher. Filmreif und szenisch baut sich die Geschichte auf. Man sagt oft so dahin, lesen sei Kino im Kopf, bei Paul Murray läuft der Projektor surrend bereits mit dem ersten Satz los und hält nicht mehr an, bis man die letzte Seite umgeblättert hat. So geht gutes Erzählen, Erzählen von dem man nicht genug bekommen kann. Erzählen das Verwicklungen entblättert, in einer Geschichte, die sich immer weiter öffnet und mich in Rekordzeit hat lesen lassen. Eine Geschichte, von der man am liebsten alles verraten möchte, sich auf die Zunge beißen, die Finger fesseln muss, um es beim Bloggen nicht zu tun.

Stille Wasser sind bekanntlich tief, ein Geheimnis, das der Sprengstoff für alles sein kann, verbirgt der auf den ersten Blick Argloseste. Wie und wo mag das enden? Ich habe noch rund 250 Seiten vor mir, als diese Bombe platzt. Erst einmal nur für uns Leser:innen, denn wir sind in dieser Geschichte allen Handelnden immer diesen einen Schritt voraus, was einfach nur genial ist. Murray hält damit eine Spannung hoch, die der eines Krimis würdig ist. Vergisst dabei aber nie die Zwischentöne und zeigt uns eine Einsamkeit, die wenn alle hier ehrlich miteinander wären, der eigentliche gemeinsame Nenner ist.

Eine Gewitternacht. Ein Showdown in Echtzeit. Die pure Eskalation. Der Stich der Biene. Nichts ist wie es war. Jetzt sehe ich klar. Dieser Schluß! So clever! Es wird doch nicht …

Es gibt Romane, die schaffen es mich aus einer Leseflaute zu befreien, was echt ein Brett ist, dieser hier ist ein solcher! Er wird mir auch deshalb bleiben. Und wegen seiner Tragik, seiner Traurigkeit, seines Humors, seiner Zwischenzeiligkeit, der liebevollen Betrachtung seiner Figuren wegen. Allein seine Struktur, wie Murray erst hinter dem Berg hält, dann sein Blatt aufdeckt ist verblüffend und schlicht genial, und auch wie er wärmt, wenn er erzählt, würde Herbert Grönemeyer sagen. DANKE, Paul Murray! Für großes Erzählkino und ich glaube, ich habe da gerade einen All-Time-Favourite beendet!

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