Freitag, 15.09.2017
Kennt Ihr das? Das Bücherregal platzt aus allen Nähten, zuletzt Gelesenes, neu Erstandenes und alte Schätze drängen sich dicht aneinander. Aufräumen, abstauben angesagt – das ist bei mir immer eine längere Sache. Es gibt da eben diese Wiedersehen die gefeiert werden wollen, alte Bekannte die man begrüßen muss, mit denen man zwangsläufig dann ins Plaudern gerät … Mal eben so Bücher schieben geht halt einfach nicht.
Da sitze ich schon wieder, blättere, schwelge und schwupp ist eine Stunde um, oder sind es schon zwei? Sie treffe ich bei jedem Bummel durch mein Regal und “verquatsche” mich jedes Mal, gehört sie doch mit Abstand zu meinen Lieblingsfiguren …
Der Geist der Madame Chen (Amy Tan)
Bibi Chen ist tot. Gefunden hatte man die 63jährige Kunsthändlerin im Schaufenster ihres Ladens “Die Unsterblichen” (wie passend!) am Union Square. Im Hals der Toten steckte ein kleiner hakenartiger Gegenstand, er würde später als mit Juwelen besetzter Haarkamm identifiziert werden, mit diesem hatte man ihr offenbar die Kehle aufgeschlitzt. Die Tür zum Laden war aufgebrochen worden und blutige Fussabdrücke (Männerschuhe, Größe 46) führten hinaus auf die Straße. Es wurde spekuliert und ermittelt, ermittelt und spekuliert – dann, eine der Zeitung zufolge verblüffend einfache Auflösung. Ein Obdachloser mit psychischen Problemen und den blutigen Schuhen in Größe 46 an den Füßen, wurde in einer Seitengasse von Bibi Chens Laden festgenommen. Der Fall konnte also zu den Akten. Irgendwie paßte dieser Abgang ja auch zu der exentrischen Chinesin, die in ganz San Franzisko bekannt war.
Als am 11. Dezember dann endlich die Beerdigung stattfinden konnte, war Madame Chen bereits zehn Tage tot und ihr Geist hatte ihren atemlosen Körper schon lange verlassen …
Textzitat:” Als der erste Teil meiner Beerdigung vorbei war, trieb die Menge über die Stufen des De Young-Museums hinaus auf den Tea Garden Drive. Zwei kräftige Jungen auf Stelzen hielten ein als Poster aufgezogenes Bild von mir mit meiner Himalaya-Frisur hoch. Ein Blumenkranz umrahmte mein vergrößertes Gesicht. Meine Güte, es sah aus wie eine Wahlveranstaltung zum Bürgermeister der Unterwelt!”
Diese Reise vorzubereiten hatte sie soviel Mühe gekostet und jetzt sollte sie tot sein? Für Bibi Chen stand fest, sie konnte und würde dafür sorgen, dass ihre zwölf amerikanischen Freunde trotzdem aufbrachen und SIE würde sie begleiten, tot hin oder her! Basta!
Für die kleine Reisegruppe sollte es ein besonderer Weihnachtstag werden. Am 25. Dezember bestiegen sie zwei Langboote um vom See aus den Sonnenaufgang zu beobachten. Walter und ihr Führer hatten eine Überraschung vorbereitet und alle waren gespannt. Der Geist der Madame Chen, saß ganz vorne im Boot, einem blinden Passagier gleich. Ihr war ganz und gar nicht wohl bei dem Ausflug, eine böse Vorahnung hatte sie beschlichen und so versuchte sie das Boot mit der Kraft ihrer Gedanken zur Umkehr zu bewegen. Doch es war zwecklos, tot wie sie nunmal war, war sie ebenso machtlos! Die kleine Gruppe wirkte indessen entspannt, besprühte sich mit Insektenschutzmittel, genoß die vorbeitreibenden Wasserhyazinthen und die Aussicht. Am Anleger angekommen wurden sie auf die Ladefläche eines Lastwagens komplimentiert, dieser “Super-Luxus-Bus” sollte sie also zu ihrer Weihnachtsüberraschung bringen? Es wurde aufgeregt und fleißig spekuliert. Gab es hier mitten in Myanmar etwa eine versunkene Stadt, änlich Machu Pichu und sie würden sie entdecken? Oder ein Naturvolk vielleicht, was ähnlichen Sitten fröhnte wie die berühmten Frauen mit den Giraffenhälsen? Wer weiß? Die abenteuerliche Fahrt auf der Ladefläche eines alten Lasters durch die grüne Hölle war auf jeden Fall schon mal vielversprechend …
Dies war also der letzte Morgen, an dem die Gruppe gesehen worden war? Die Polizei war ratlos und der burmesiche Dschungel ja nicht gerade übersichtlich. Wie wollte man da ein paar verloren gegangene amerikanische Touristen wieder finden?
Alle richteten sich auf ihre erste Nacht in der Wildnis Burmas ein, noch glaubten sie, es würde ihre einzige bleiben (wie man sich doch irren kann). Man beschloß lieber die Schuhe anzubehalten, falls man in der Nacht nochmal raus musste. Bennie lag stundenlang wach, ihm fehlten seine Medikamente und er machte sich Sorgen, wie sich das auswirken könnte. Wurden Schlangen etwa nachts von Körperwärme angezogen? Marlena träumte von Bäumen voller Affen, von Fallgruben und erwachte wenig später wieder mit klopfendem Herzen. Diese Geräusche überall …
Textzitat: “Das einzig Sichere in Zeiten großer Unsicherheit ist, dass die Menschen große Stärke oder große Schwäche zeigen, dazwischen gibt es nur sehr wenig.”
Amy Tan, als Tochter chinesicher Einwanderer in Oakland, Kalifornien geboren, gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Autorinnen und schrieb sich in die Herzen eines Millionenpublikums. Der Geist der Madame Chen ist bereits 2008 erschienen und gehört bis heute zu den Schätzen in meinem Bücherregal. Wo ich das kleine dicke Taschenbuch damals entdeckt habe, weiß ich gar nicht mehr. An den Spaß, den ich beim Lesen hatte entsinne ich mich aber noch heute. Mittlerweile glaube ich, dieser Roman hat mein Faible für die “schrägen” Typen geweckt, denn in ihr wimmelt es wunderbar davon. Herrlich wortwitzig, für mich aus der Zeit gefallen und ein einziges großes Abenteuer. Der Schauplatz exotisch, die Figuren so schön griffig und unverstellt gezeichnet. Wie die beiden Kulturen, die der Amerikaner und der Asiaten hier aufeinander prallen, finde ich köstlich.
Wenn aller Komfort plötzlich verloren geht und alle Errungenschaften der Zivilisation weit weg sind, wie ergeht es uns ach so zivilisierten Menschlein dann? Wollen wir eigentlich allen Ernstes fremde Kulturen wirklich hautnah erleben, oder doch lieber aus sicherer, vollklimatisierter Entfernung? Packt man ein paar der unterschiedlichsten Charaktere zusammen und bringt sie in eine Extremsituation, wer entwickelt sich wie? Zeigt wer wann sein wahres Gesicht?
Gute Abenteuergeschichten gibt es heute viel zu selten (meine Meinung), deshalb blättere ich immer noch sehr gerne in dieser hier und bei aller Exzentrik, Bibi Chen ist und bleibt mein guter Geist …
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