“Man kann seine Heimat verlassen, aber es gibt keine Gegenwart ohne Herkunft. Niemals und nirgends.”
Zitat Salih Jamal Das perfekte Grau
Heute war es schon vor mir aufgestanden. Das Grau. Die Nebel ziehen um unser Haus, wie auch schon in den letzten Tagen. Ich stehe mit einer Tasse Kaffee am Fenster und überlege. Ob die Geschichte die ich heute anfangen will recht haben kann. Grau ist keine Farbe hat mein Papa mal gesagt und er musste es wissen, er hatte schließlich das Malern gelernt. Als Beruf. Kannte sich aus mit der Buntheit, mit Farbtönen. Grau ist für mich aber viel mehr als nur EIN Ton. Seine Schattierungen sind es, die Zwischentöne, nach denen man die Augen aufhalten sollte nicht?
Das perfekte Grau von Salih Jamal
Die Geschichte beginnt dort wo so vieles schon geendet hat. Wo Veränderungen auf einer nahegelegenen, mittlerweile gut ausgebauten Autobahn an einem Ort vorbeieilen. In einem alten Seebad, irgendwo an der Ostsee, in einem Hotel, das ebenfalls schon bessere Zeiten kennengelernt hat.
Das Kommando hat vor Ort “die Schmottke”, die auf Diskretion nichts gibt und Mimi, die ihr Mädchen für alles ist, hält hier alles zusammen. Ein Geheimnis umweht diese ultraschlanke, damenhafte, nicht mehr ganz junge Mimi, wer weiß, vielleicht sogar ein düsteres? Und dann, haben wir da noch Dante, der eigentlich Ante heißt, was ich von Anton ableitet. Er ist sechsunddreißig, also gar nicht mal so alt, wie er findet, es ist seine zweite Saison hier im Grandhotel, als Kofferträger, Maler und Schönheitsreparateur, ja, und der frühe Vogel ist übrigens nicht sein Ding. Auch nicht die Jagd nach dem Wurm, viel lieber lässt er sich treiben in und durch den Tag.
Aus seiner Lethargie reißt ihn eine junge Frau, die sich laut fluchend und schluchzend als neue Kollegin einführt. Wie sehr sie noch an Dantes Kokon zupfen würde, ahnte er bei dieser ersten Begegnung noch nicht. Novelle, heißtsie, tätowiert und gepierct, bringt sie den frischen Wind, aber auch die Unrast in ihren von Routinen durchzogenen Alltag.
Die Haut dunkel, fast schwarz, links fehlt ihm ein Ohr, ein Handgelenk steht ihm etwas ab, vielleicht weil er nach einem Bruch nicht richtig verheilt ist. Das ist Rofu. Tellerwäscher und Küchenhilfe. Dieser bullige, kahlköpfige Kerl, der mit Substantiven und Artikeln hadert, hat ein Herz aus Gold und ist mir auf Anhieb mordssympathisch.
Mit ihnen spiele ich Mäuschen bei Bingo-Abenden, die sich anfühlen wie Schrottwichteln, verfluche eine Hotelchefin, die der Geiz nicht nur am Kragen gepackt hat, und die ihre Angestellten, die das Leben hier angespült hat wie Treibgut, schamlos ausnutzt.
Das Beste an der Vergangenheit ist die Erinnerung an sie, aber ein verklärter Blick zurück hilft nicht. Das wissen hier alle und weil das so ist und auch weil die Polizei nachhilft, treten vier von ihnen die Flucht nach vorne an …
Salih Jamal, in seinem Lebenslauf kann man lesen, er sei weit entfernt von dort geboren wo er hingehöre, um zwanzig nach sieben, an einem Sonntag, genau in der Minute des Sonnenaufgangs, im Sternzeichen des Skorpion. Zwei Romane hat er bereits vorgelegt, mit diesem hier schrieb er sich unter die Nominierten der HOTLIST 2021, in bester Gesellschaft zu Patricia Malcher deren Titel LIEB KIND ich kürzlich vorgestellt habe.
In Salih Jamals Geschichte geht es um Bindungen, um den Schmerz wenn sie brechen, um den Mut den es nach einer Verletzung braucht neue einzugehen, um solche, die vielleicht doch einmal von Dauer sind, sein könnten.
Es geht um Träume. Um Träume vom Fallen, um das Gewicht der Welt, darum gestrandet zu sein und es um ausgestreckte Hände. Um Träume, die antreiben, und um die, die einen verbrennen. Um ihre Träumer, Identität, Hoffnung und Freundschaft.
Sehr intensiv ist Jamal für mich die Auseinandersetzung mit dem gelungen was Flucht ausmacht, was sie mit denen macht die fliehen, was Fluchtursachen gründet. Wer nicht gesehen werden will, der versteckt sich und Heimat ist dort, wo man gesehen, wo man erkannt wird.
Lesen geht tiefer als hören, weil man länger bei einem Satz verweilen kann, ihn vielleicht auch mehrfach liest. Mag sein, auf jeden Fall ist das Hören einer Geschichte anders, nicht zuletzt weil man dafür einen Sinn einsetzen muss, der uns (meine Meinung) immer mehr verloren geht. Ob man ein guter Zuhörer ist entscheiden im Miteinander immer die anderen. Im Hörbuch entscheidet maßgeblich der Vorleser über den Eindruck der bei dem bleibt, der zuhört und sehr oft schon hat mich ein Vortrag tief beeindruckt.
Kurt Kühl, der auch schon die Thriller von Nienke Jos eingelesen hat, so wie die beiden anderen Romane von Salih Jamal, wechselt in dieser Fassung zwischen kühler Sachlichkeit, Nachdenklichkeit und leidenschaftlichem Fluchen professionell hin und her. In den getragenen Passagen deklamiert er mir ein wenig zu sehr, das wirkte auf mich, wie zu viel Zuckerguss auf der Torte. Zu den Figuren hingegen bewahrt er für mich eine eigenartige Distanz, diese musste Jamals Prosa für mich überbrücken. Er schafft das, sie ist ausdrucksstark genug dafür, aber das Hörbuch läuft für mich so leider nicht richtig rund.
Wie ein Roadmovie ist der Plot gebaut, nein, zunächst wie ein Flussmovie, denn zuallererst flüchtet die kleine Schicksalsgemeinschaft auf einem geklauten Boot vor allerlei und vor der Polizei.
Ein falscher Pass für eine Freundin, durchschlagen ist angesagt auf dieser Odyssee von der Ostsee über Berlin nach Salzburg. Zu Land und zu Wasser.
Auf dem Weg, eine Agrargenossenschaft, Erdbeerpflücken und Bullenreiten. Nach reichlich Metaphern und einer Reise mit etlichen Etappen, komme ich dann an. Am Ende oder am Anfang, ganz wie man es nimmt …
Kraftvoll, nachdenklich und humorvoll. Das sind die Adjektive, die für mich auf Jamals Schreibe zutreffen. Man findet leicht einen Zugang zu ihr. Voller Sprachakrobatik balanciert Jamal auf dem Grat zwischen seinen Sätzen und lotet das Drama aus. Blumig ausgeschmückt, und nur so strotzend vor Lebensweisheiten, wirkte die Geschichte aber leider auch überladen und sie konnte mich daher Summasumarum nicht abholen. Ihre Botschaften hätte ich so plakativ nicht gebraucht, und was da alles an Dramen zusammenkommt: Homosexualität, sexueller Missbrauch, nicht nur ein versuchter Suizid, ein Giftmord. Da schleppen sich die Protagonisten für meinen Geschmack an zu vielen schweren Paketen ab und bei bei all der Alltagsphilosophie kam ich manchmal nicht mehr hinterher.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Plan der hier gefasst wird, entbehrte für mich der Glaubwürdigkeit, auch wenn Liebe ein starkes Motiv, und wenn es denn Liebe ist. Das hat beinahe satirische Züge, oder ist einfach nur völlig abgedreht. Was es ist, muss jeder für sich entscheiden, ich habe es für mich nicht einordnen können.
Folgen konnte ich hingegen der Kernbotschaft des Romans, der die Fragen stellt:
Führt tatsächlich der Zufall Menschen zusammen, oder gibt es doch einen größeren Plan? Wie erkennt man in einem anderen eine verwandte Seele, der man dann auch bereit ist zu vertrauen?
Denn Vertrauen braucht Mut, bedeutet es doch den Tausch von Kontrolle gegen Glauben, schreibt Jamal.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel und Schuld vergeht nicht. So endet dann auch diese Geschichte wie sie enden muss. Mit der Wahrheit des Augenblicks.
“Manchmal findet sich die Heimat nicht an einem Ort, sondern in Menschen.”
Textzitat Salih Jamal Das perfekte Grau
Wie schön, dass Dir die Geschichte so gut gefallen hat. Ich hatte da leider schon ein paar Abstriche … LG von Petra
Ich fand es geradezu genial!
Liebe Grüße aus Kiel von Dorothee