Das Geschenk des Meeres (Julia R. Kelly)

Wie schwer loslassen fällt, fallen muss, wenn man einen Vermissten nicht begraben kann. Das Meer reißt vieles an sich. Raubt Land, Küste, geliebte Menschen und doch kommen wir nicht von ihm los. Etwas ist da, das fasziniert und lockt. Die Unergründlichkeit, die in seiner Tiefe lauert vielleicht, zu der wir mit U-Booten vorzudringen versuchen. Taucher, die nach Wracks suchen, die ersten Bilder der gesunkenen Titanic. Was ist es, das wir in seiner Stille zu finden hoffen?

<Komm hinfort, oh Menschenkind
Auf zu Wassern, Wildnis, Wind
Mit einer Fee an deiner Hand,
Denn auf der Welt gibt es mehr Tränen,
als je ein Kind verstand

William Butler Yeats

Das Geschenk des Meeres von Julia R. Kelly  

Schottland, in einem bitteren Winter, um 1900.

Ein Licht im Fenster soll diejenigen nach Hause leiten, die draußen auf dem Meer unterwegs und in diesen Sturm geraten waren. Ein Sturm, der sich, wie andere vor ihm, nahm was er wollte. Dachschindeln, Schafe und ihre Boote, die er an die Klippen warf. Dieser Sturm aber brachte ihnen etwas zurück. Er machte ihnen ein Geschenk. Eines, das Joseph, ein Fischer, am Morgen findet, als er am Strand nach dem Rechten sah. Ein Junge, klatschnass und blau gefroren, ihn sammelt er auf. Auf offenen Armen trägt er ihn durch den ganzen Ort bis zum Haus des Pfarrers.

Dieser Winter, so eiskalt, der Himmel über ihren Köpfen schwer und grau. Es graupelt und Dorothy schließt beim Anblick des Jungen, als sie ihn in Josephs Armen sieht für einen Moment die Augen. Dann fällt ihr Blick auf einen Fuß des Kindes, an dem ein kleiner Stiefel fehlt. Genauso einer lag zu Hause in ihrer Kommode. Seit damals. Seit fünfzehn Jahren. Als Moses nicht mehr zu finden gewesen war. Da war dieser Schuh am Ende das einzige was ihr von ihrem kleinen Sohn geblieben war.

Niemand wollte aussprechen was alle dachten. Dieser kleine Junge, sah genauso aus wie der, den das Meer sich vor so vielen Jahren genommen hatte. Und dann die Sache mit dem Stiefel. Unheimlich und unmöglich war das. Wie gemacht für Tratsch und Gerüchte. Denn ein Kind konnte nicht verschwinden und Jahre später im gleichen Alter wieder auftauchen. Stumm und verstört. Unversehrt.

Aberglauben, Netze und Taurollen. Scones und Tee, Gerüchte und Geschwätz. Zarte Bande und ein Streit. Das Gefühl von Freiheit, die Verheißung von fremden Städten und Häfen in der Ferne. Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Klatschbasen und bügelnde Väter. Leerstellen und eine Hoffnung, die nicht mit einem Kind hat sterben können. Ein roter Ball, eine Prüfung und eine Merkwürdigkeit zu viel.

Eine zarte Geschichte ist Julia R Kelly da gelungen. Eine, die nach unseren Herzen greift. Die wärmt und wie gemacht ist für den Winter, nicht nur weil sie in dieser Jahreszeit spielt. Klug konstruiert ist sie, mit Figuren, die griffig und liebens- oder hassenswert sind. Allesamt.

Die Gehässigkeiten einer Damen-Strickrunde etwa, sind einfach, Pardon, köstlich. Ohne eine Ahnung zu haben, wird da wild spekuliert. Lästerschwestern unter sich.

Zu gefährlich um darin zu schwimmen, voller Untiefen und rau. Ist das Meer hier. Der kleine Moses hatte immer gezogen an ihrer Hand sobald sie in seine Nähe gekommen waren. Fasziniert und begeistert hatte ihn das Spiel der Wellen. Auf eine Weise, die ihr unheimlich gewesen war.

Wie viele Geheimnisse, Ängste und Sorgen haben wir als Kinder unseren Teddybären anvertraut? Was täten sie erzählen, wenn sie es könnten? Ich denke an den viel geliebten, abgespielten Bär, der in unserem Flur sitzt und eine ganze Kindheit in sich abgespeichert hat. Der bis heute jede Freude und jeden Schmerz bewahrt, nichts ausgeplaudert hat, weil das der Job von Teddybären ist und weil wir Ihnen deshalb vertrauen. Darum bleiben sie oft ein Leben lang bei uns.

Für diese und ähnliche Gedanken habe ich Das Geschenk des Meeres gemocht. Denn einen solchen Bären gibt es auch hier. Ganz langsam kroch mir diese Geschichte von Julia R. Kelly unter die Haut. Kaum zu glauben, dass es ihre erste Romanveröffentlichung ist.

Die Englischlehrerin, Autorin und Mutter von fünf Kindern, Julia R. Kelly, lebt in Herefordshire. Mit diesem Roman, der im englischen Orginal The Fisherman’s Gift heißt, schrieb sie sich auf die Longlist für den Mslexia Novel Prize, den Exeter Novel Prize, den PenguinWriteNow sowie den Bath Novel Award und wurde mit dem Blue Pencil First Novel Award ausgezeichnet. Ihr Debüt wurde in zehn Sprachen übersetzt und ganz wunderbar ins Deutsche von Claudia Feldmann. Wer sich, wie ich, für das Hören entscheidet, erlebt zudem in der Hörbuchfassung eine großartige und empathische Astrid Kohrs. Sie gestaltet diese Lesung lebendig und spannend. Wie gemacht ist sie für den ein oder anderen Abend am Kamin.

Man kann nicht hineintreten in die Vergangenheit, schreibt Julia R. Kelly und lässt ihrer Dorothy, die klug ist und Lehrerin, trotzdem diesen Zweifel und uns Lesenden, uns auch. Was wäre wenn doch, fragen wir uns. Was wäre geworden aus ihnen allen, die sie weiter gemacht haben nach diesem Verlust, der sie hat streiten lassen und vermissen.

Dieses Buch, diese Geschichte, kann man nur mögen. Bildhaft und ihren Figuren zugewandt, kitschfrei, atmosphärisch und mit jeder Menge Meer ist sie unterhaltsam und bewegend gelungen.

Sie auf oder am Wasser bei sich zu haben, stelle ich mir wunderbar vor. So einiges an Schwärmerei hatte ich zu dem Debüt von Julia R. Kelly schon aufgeschnappt, zog aber ein wenig in Zweifel, ob nicht das ein oder andere Lob übertrieben sei. Jetzt am Ende des Romans angekommen, reihe ich mich ein in die Schlange der Fans. Ohne Wenn und Aber. 

Denn diese Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die geprägt ist von Verlusten, Konventionen und der Unbill von Natur und Gezeiten hat ein großes Herz. In ihr lebt man mit dem Herzschlag des Meeres und stirbt mit seinem Tosen im Ohr. Man kümmert sich umeinander, sieht einander. Auch kritisch. Ist verschworen. Urteile gelten hier als unumstößlich, der Pfarrer ist eine Institution im Dorf. Gängige Moralvorstellungen spiegeln das glasklare Rollenbild dieser Zeit für Mann und Frau. Was sich gehört und was nicht ist unumstößlich und besser, man hütet seine Geheimnisse gut, denn so manches Ohr ist hier auf Empfang. Auch auf die kleinen Gemeinheiten hat diese Autorin ein Auge. Das macht ihren Roman so echt. Es menschelt sehr in ihm. Positiv wie negativ.

Muss man ihn unterbrechen, kommt man immer wieder gerne zurück. Gut und gerne wäre diese Story verfilmt ein Hit. So mitreißend und dicht wie sie erzählt ist. Lasst Euch also einfangen, so wie ich und genießt die kalten Tage mit einer Tasse Tee, einem Licht im Fenster und vielleicht, ja mit diesem Roman auf dem Schoß.

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