*Rezensionsexemplar*
Sonntag, 05.01.2020
Geschichten wieder zu entdecken, die man vergessen geglaubt hat, gehört für mich mit zu dem Schönsten was ich mir denken kann, wenn es um Schriftstellerei geht. Wenn gleich ein ganzer Verlag sich denen verschreibt, deren Gedanken und Sätze längst aus den Bücherregalen den Handels verschwunden sind und sie dann auch noch so hübsch in Szene setzt wie hier, dieses violette Vorsatzblatt in Kombination mit der Haptik der Bindung, dann ist es um mich und um meine Lese-Seele geschehen …
Zudem ist “Die Schneekönigin” des dänischen Geschichtensammlers Hans Christian Andersen eines meiner liebsten Märchen. Etwas magisches geht für mich von der Kälte aus, die in diesem Märchenreich herrscht. Andersen verstarb 1875, neunundzwanzig Jahre lang war er zuvor auf der Suche nach Geschichten durch die Welt gereist, hat uns u.a. auch “Die kleine Meerjungfrau” geschenkt.
Das Eis-Schloss von Tarjei Vesaas
An einem Tag im Spätherbst. Früh bricht hier im hohen Norden die Nacht über das Land herein und lange hält sie an …
Siss rannte, wie von Furien gehetzt. Die Dunkelheit, die am Wegesrand lauerte machte ihr Angst. Schon auf dem Hinweg war das so gewesen, aber jetzt hatte sie auch Furcht vor dem was hinter der Dunkelheit lauerte. Der Besuch bei ihrer neuen Schulkameradin, war so anders gewesen als erwartet. Dabei war Siss so stolz gewesen, das die scheue Unn, die in der Schule immer abseits stand, die sich allen gemeinsamen Aktivitäten verweigerte, ihre Freundin sein wollte. Unn, die trotz ihrer Einsamkeit, nach dem Tod ihrer Mutter war sie jetzt hier bei ihrer Tante gelandet, so stark und klar wirkte.
Jetzt konnte Siss ihr nicht mehr in die Augen sehen, vor dem morgigen Schultag und einer Begegnung mit Unn graute ihr und doch, sehnte sie sie auch herbei. Wie konnte das sein? Was passierte hier mit ihr und mit Unn? Mit bangem Herzen brach Siss am nächsten Morgen zur Schule auf, doch der Stuhl von Unn blieb leer. Heute und auch an den nächsten Tagen sollte das so bleiben …
“Ein Fels steht im fließenden Wasser. Er steht da wie eine still in die Luft erhobene Axt und zerteilt die Zeiten für uns, damit wir rasch genug vorankommen. Wir werden erwartet.”
Textzitat Tarjei Vesaas Das Eis-Schloss
Tarjei Vesaas, geboren am 20. August 1897 in Vinje, Provinz Telemark, verstarb am 15. März 1970 in Oslo. Der norwegische Romancier, Lyriker und Dramatiker schrieb seinen Roman “Das Eis-Schloss” im Alter von sechzig Jahren, da konnte er schon auf ein erfolgreiches schriftstellerisches Leben zurückblicken. 1964 wurde er mit dem Preis des Nordischen Rats, dem wichtigsten Literaturpreis Skandinaviens ausgezeichnet. 1965 erschien “Das Eis-Schloss” erstmals in deutscher Übersetzung und verschwand dann aus den Bücherregalen, war nur noch antiquarisch erhältlich. Wie schön, dass ihn der Guggolz-Verlag wieder entdeckt und ihm eine Überarbeitung gegönnt hat. Eine Aufgabe, die der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel mit Bravour gelöst hat. Er lässt uns an Sätzen teilhaben die schroff sind, wie die Bruchkanten von Eis-Schollen, der Worte erschafft, die auf den Punkt bringen um was es hier geht: Um nichts weniger als um Leben und Tod.
So soll bitte jedes meiner weiteren Lesejahre beginnen! Mit einem solchen Paukenschlag! Die klirrende, glasklare Kälte, die diese Geschichte durchzieht, dringt beim Lesen durch die Seiten in jede meiner Poren. Ich bin schon versucht zu prüfen, ob der Rauhreif nicht auch schon meine Wimpern überzogen hat, ob mein Atem nicht in dampfenden Wölkchen vor mir steht … Mein Herz setzt nicht nur einmal aus bei der Vorstellung was Unn hier durchleidet. An seelischem und körperlichem Schmerz. Welche Vorwürfe sich Siss macht. Welche Seelenqual das Mädchen peinigt. Nur elf Jahre sind die zwei alt und beide spüren eine Verbundenheit, die man so spontan und tief vielleicht auch nur als Kind erfahren kann. Eine Seelenverwandtschaft, eine Ähnlichkeit, die beide erschreckt und dieser Schreck versucht den Geist dieser aufkeimenden Freundschaft zu zerstören.
Vesaas Wortreichtum raubt sie mir, macht mich sprachlos, atemlos. Seine Wortschöpfungen müssen für seinen deutschen Übersetzer eine Herausforderung gewesen sein. Dieser meistert sie mit einer Gewandheit, die mehr als beeindruckt. Von kleinen post it’s übersät sind jetzt die Seiten meiner Aussage, keines dieser Wörter will ich vergessen. Keines dieser Wörter, das die Schönheit dieses Naturgebildes, das Vesaas Das Eis-Schloss nennt, beschreiben. Das so etwas überhaupt möglich ist, Kälte und Klarheit, Beklommenheit und Hilflosigkeit so mit Sätzen einzufangen. Mein Kopf will nicht mehr aufhören mit schütteln, mit zitternden Fingern blättere ich um. Mein Herz ist schwer. Ach, Unn! Was quält dich nur, was hat dich bis hierher geführt? Der Mut der Verzweiflung? Der Gipfel der Verzagtheit?
Ach, Siss! In deinem Kopf, in deinem Herzen müssen sich die Wörter drehen. Wie sie dich bedrängen, voller Hoffnung und Unglauben in dich dringen wollen. Wie sehr du helfen willst und es doch nicht kannst. Aufloderndes Hoffen, dann wieder Resignation. Was für eine Achterbahnfahrt!
Eine Geschichte von Freundschaft, von Zusammenhalt von einem stillen, geheimen Versprechen. Davon, wie man innerlich erstarren, einfrieren kann und davon wie heilsam Fürsorge und Verantwortung füreinander wirken können und über allem schwebt: Ein Hauch von Schicksal …
Ich verneige mich: Vesaas baut Satzkunstwerke, die die Stille der Handlung wie scharfe Messer zerschneiden, die stakkatoartig aneinandergereiht und meist kurz sind, die mich so durch die Geschichte vor sich hertreiben wie ein Schneesturm. Eine unterschwellige Spannung hält er auf den nur 199 Seiten so hoch, das mich permanent fröstelt. Acht mal insgesamt wurde Vesaas für den Nobelpreis vorgeschlagen, immer ist er ihm versagt geblieben. Wer so knapp und doch so lyrisch sanft schreiben kann, dem gebührt jede Ehre. In meinem Herzen wird dieser außergewöhnliche Wortschöpfer, werden Siss und Unn für immer einen Platz haben
Es ist Vesaas besonderer Erzählstil, der diese Geschichte ausmacht. Der weit über seine Zeit hinausragt, der so rau und schön ist wie das Eis, das man schimmernd von allen Seiten betrachten kann.
In einem Nachwort würdigt und wertet, die Literaturnobelpreisträgerin von 2007, Doris Lessing, den Roman aus ihrer Sicht. Interpretiert ihn und ich bemerke für mich, ich habe noch etwas anderes heraus gelesen, für mich ganz allein …
“Das freundliche Wasser an der Eiskante erfüllte sie mit stiller Freude. Zwar verlor sie auch jetzt den Halt und fiel in eine Grube, wo die Schatten waren, aber das währte nur einen Moment, und das andere verschwand rasch wieder bei der Anblick, der auf sie einströmte: Der große Fluss, der lautlos und klar unter dem Eis hervorkam und durch sie hindurchfloss und sie trug und etwas zu ihr sagte, das sagte, was sie brauchte. Sie still waren sie, das Wasser und sie …”.
Textzitat Tarjei Vesaas Das Eis-Schloss
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