Das brennende Mädchen (Claire Messud)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 21.10.2018

“Gute Freunde erkennt man leichter, wenn das Leben schwerer wird”.

Ein zerbrechliches Ding ist sie. Pflegebedürftig wie ein Pflänzchen in der Wüste aber unverwüstlich, wenn Nahrung und Pflege passen. Wenigen von uns gelingt es sogenannte Sandkasten-Freundschaften über die Zeit zu retten. Wenn wir es schaffen, empfinden wir diese Bindungen als stabil, wertvoll und tief. Eine Autorin, die sich über die Freundschaft viel Gedanken gemacht hat, habe ich heute im Gepäck, rückblickend aus der Perspektive ihrer Figur Julia erzählt sie uns von einem Abenteuer-Sommer und seinen Folgen, schaut mal:

Das brennende Mädchen (Claire Messud)

Dieser Sommer vor der siebten Klasse, war ihr Zwillingsommer. Dicke Freundinnen waren sie seit dem Sandkasten, unzertrennlich, wie Yin und Yang und doch auch unterschiedlich, wie die zwei Seiten einer Medaille. Die eine, Julia, behütete Zahnarzt-Tochter, hilfsbereit, besonnen, strebsam und nachdenklich und Cassie, die ohne Vater aufgewachsen war, wagemutiges Partygirl, das dem Teufel bis vor die sprichwörtliche Küchentüre ginge, mit einer großen Sehnsucht im Herzen. Schneeweißchen und Rosenrot – Gegensätze die sich anzogen.

Für diese endlosen, heißen Sommer-Tage gab es für die beiden nur einen Lieblingsplatz. Das Naturbad im alten Steinbruch war eigentlich nur für Mitglieder, aber die Lücken im Zaun waren groß genug. Wenn man jetzt noch schwimmen könnte, wäre es perfekt. Ein dicker Verband um Cassies Arm hatte dem Baden im klaren Wasser aber erst einmal einen Riegel vorgeschoben und Julia war solidarisch genug deshalb ebenfalls auf das Schwimmen zu verzichten.

Die Tage zogen sich wie Kaugummi, nachdem die zwei ihren Ferienjob im Tierheim eingebüßt hatten. Julia vermisste die Arbeit dort, nicht dass sie Cassie einen Vorwurf machen würde, obwohl es fraglos ihre Schuld gewesen war, dass sie dort raus geworfen worden waren. Cassies Leichtsinn, sich in einen der Kampfhund-Käfige zu schleichen hatte ihr, Julia als Abrundung zum Rauswurf eine ganze schöne Gardinenpredigt ihrer Eltern eingebracht. Die Bilder, wie dieser Hund an Cassies Arm hing, wie zerfetzt er danach aussah, würde Julia so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommen, die Angst die sie um ihre Freundin gehabt hatte war eigentlich schon Strafe genug gewesen. Aber na ja, Eltern halt …

Wer jetzt annahm, das Cassie, nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatte etwas kürzer treten würde, der war schief gewickelt. Ihre fixe Idee, der ehemaligen, mittlerweile stillgelegten Nervenheilanstalt einen Besuch abzustatten und ihr ihre Geheimnisse zu entreißen, den Weg dorthin durch den Wald vom Naturbad aus zu suchen ließ sie nicht mehr los. Gebetsmühlenartig thematisierte sie diesen Wunsch. Mehrere Vorstöße durch unwegsames Gelände waren notwendig, bis die beiden Mädchen endlich ihr Ziel erreicht hatten und schließlich vor dem gespenstigen Gemäuer standen. Jetzt müssen wir nur noch hinein kommen, meinte Cassie …

“Es ist kein undurchdringlicher Hänsel-und-Gretel-Wald, sondern ein Wald, in dem das Sonnenlicht grün gescheckt auf den weichen nadligen Boden fällt, wo verblüffende Giftpilze in Klumpen aus der Erde sprießen – flache rote Teller oder geriffelte Chips, klitzekleine gelb glänzende wie poliert wirkende Knollen – und unsichtbare Vögel in den Wipfeln sitzen und sich gegenseitig zurufen”. (Textzitat)

Claire Messud, geb. 1966, entstammt einer französisch-kanadischen Familie, ist (als Autorin!) mit einem Literaturkritiker verheiratet, unterrichtet Kreatives Schreiben an verschiedenen US-Colleges und hat in den USA mit diesem Roman die Leser-Herzen abgeräumt. Mich hat sie auch erwischt mit dieser Geschichte, die so leise, so unbeschwert anfängt, von Seite zu Seite eindringlicher wird, wenn wir Zeuge davon werden, wie die Freundschaft dieser beiden Mädchen zerbricht. Wie sie sich verlieren, den Draht zueinander. Langsam und schleichend, beginnt alles in dem Herbst nach diesem Zwillingssommer, wie die zwei ihn nennen. Nie waren sie enger verbunden gewesen, nie vertrauter. Wie konnte das, was dann geschah also eigentlich passieren? Diese Frage treibt Julia um und sie stellt sie auch, mit dem Mut der Verzweiflung, erntet aber nur ein Achselzucken und das Vermeidbare wird nach und nach unvermeidlich …

Ohne offenen Streit, ohne Schuldzuweisungen, vielleicht auch ohne böse Absicht, leben die Freundinnen sich auseinander. Das klingt normal und kommt in den besten Freundschaften vor meint Ihr?  Stimmt, wenn es nicht auch der Anfang allen Schreckens wäre. Messud erfindet die Welt nicht neu, ist weder reißerisch noch kitschig, schafft ein so typisch amerikanisches Setting, das man schon milde lächeln will und da packt sie uns am Kragen, sät Zweifel und Mißgunst …

Wie viele Menschen streifen wir in unserem Leben? Wie viele Beziehungen bauen wir auf und lassen sie zerfallen? Wie gut kennen wir einander, wenn wir miteinander umgehen? Wie es sich wohl anfühlt, den Fixstern zu verlieren nachdem man sich jahrelang ausgerichtet hat?

Wie prägend ist es für uns, wenn ein früh geknüpftes Freundschaftsband zerreißt, an das wir nicht mehr anknüpfen können? Was macht es mit uns, wenn wir keine Erklärung finden, warum es passiert ist? Hindert es uns, uns künftig anderen wieder zu öffnen? Nähe und Vertrauen wieder zu zulassen?

Was richtet man an, wenn man sich ohne weitere Erklärung von jemandem abwendet? Von außen betrachtet ist es leicht dann Absicht zu unterstellen. Die eigenen Verletzungen schmerzen und verstellen den klaren Blick auf Ursache und Wirkung. Was, wenn in dem anderen aber ein Feuer brennt, das ihn längst von innen auffrisst? Spüren wir das rechtzeitig, erkennen die Zeichen? Wollen und können wir dann das Wasser sein?

Schlechter Umgang, dieser Stempel ist schnell jemandem aufgedrückt, aber er führt für besorgte Eltern, die ihre Sprösslinge genau davor schützen wollen nicht immer zum Erfolg. Scheint doch der Reiz des Verbotenen oft um ein Vielfaches mehr zu locken, als die Furcht vor Repressalien abzuschrecken vermag. Eltern wandern da auf einem schmalen Grad zwischen Einmischung und Vertrauen.

Claire Messud greift dies in ihrem Roman ebenso auf, wie die Probleme, die entstehen können, wenn ein allein erziehender Elternteil sich neu bindet und dieser Partner dann nicht den Zuspruch des Nachwuches findet.

Die im Roman entstehenden Spannungen läßt Messud uns mit Händen greifen, bis Cassies Schicksal auf Messers Schneide steht und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Erschreckend zu erlesen fand ich dabei, wer sich wie verhält um Cassie zu helfen, oder eben auch nicht. Wer blind und taub ist für das, was um ihn herum geschieht und wer die Antennen auf Empfang hat. Wie so oft sind dies diejenigen, die den wenigsten Grund dafür hätten.

Für mich zeigt Claire Messud großes Erzähltalent, weil sie plaudernd zwischen den Zeilen diese großen Fragen aufwirft, weil sie damit einen Grad der Nachdenklichkeit bei mir erreicht der mich stumm macht. Weil sie kein Problembuch schafft, sondern weil sie mit der richtigen Mischung aus Neugier und Dramatik unterhält.

Das Geheimnis dieses Sommers und die Sorgen des darauf folgenden Herbstes fängt sie wunderbar ein. Das klare Wasser des Sees im Steinbruch, der funkelnd wie ein Juwel in der Sonne liegt. Die Beine der Mädchen, die mit nackten Zehen im Wasser baumeln. Pupertierendes Gekicher und Gemeinheiten. Die fletschenden Zähne des Hundes, der Cassie angreift, die erstickten Schreie, Wanderungen durch urwüchsige, übergriffige Wälder, alte Gemäuer, Wispern in den Schatten.

Eine Sommer, eine Herbstgeschichte – ein Ganzjahresbuch. Es liest sich ruckzuck weg, so nimmt es einen ein. So typisch amerikanisch ist der Plot und doch gleichzeitig so universell.

Meiner langen Rede kurzer Sinn ist – eine eindeutige Leseempfehlung!

Zu den Nebenwirkungen dieser Geschichte muss ich dann, als Eure Bücher-Apothekerin, aber noch folgendes anmerken: Lasst Euch von der Leichtigkeit dieser Worte nicht täuschen, sie gehen tief und haben Widerhaken! Wirken auch dann noch, wenn man das Buch längst zugeschlagen hat …

“Die Welt öffnet sich; die Geschichte erstreckt sich hinter einem und die Zukunft vor einem, und plötzlich ist man sich bewußt, dass alle um einen herum ein wildes, ungekanntes Innenleben haben, man erkennt, dass jeder einzelne Mensch in einer ungesagten Welt lebt, die genauso randvoll und fremd ist wie die eigene, und das man niemals darauf wird hoffen können, je irgendetwas ganz und gar zu wissen, nicht mal über sich selbst”. (Textzitat)
Verfasst von:

6 Kommentare

  1. Petra
    25. Oktober 2018

    Liebe Anke, herzlich willkommen in meiner kleinen Bücher-Apotheke, schau Dich um, fühl dich wohl, ich freue mich sehr über diesen Deinen Besuch und schon auf die nächsten. Mein Lieblingsbuch 2018 findest Du auch hier, das könnte Dir ebenfalls gefallen. Es heißt Loyalitäten von Deplhine de Vigan. LG von Petra

  2. Anke
    25. Oktober 2018

    Wunderbare Art eine Rezension zu schreiben. Mich hat das Buch schon jetzt eingefangen. Werde ich mir auf jeden Fall zulegen. Auch hier werde ich gerne zurückkehren um mir weitere Lesetipps zu holen. Zu wenig Bücher gibt’s nicht. 🤗

  3. Petra
    24. Oktober 2018

    Lieben Dank, Janna – freue mich gerade sehr über das nette Kompliment! LG von Petra

  4. Janna | KeJas-BlogBuch
    24. Oktober 2018

    Eine wundervolle Rezension <3 Mehr kann ich gar nicht dazu schreiben (=

  5. Petra
    21. Oktober 2018

    Kommt Zeit kommt Buch, Dorothee ;-). Freue mich, wenn dieser Titel Dich angelacht hat. LG von Petra

  6. Dorothee
    21. Oktober 2018

    Wann soll ich DAS alles lesen???😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert