Da hinauf möcht’ ich nochmal. Noch einmal so ein Bild machen wie dieses. Mit den dahingepuzzelten Gipfeln, den zarten Blüten zwischen dem Gneis. Auf den Berg hören, wenn er nach mir ruft. Meine Höhenangst überwinden. Meine Platzangst beiseite lassen. In eine Gondel steigen. In die einer Seilbahn. Aussteigen, los gelaufen, mit dem Stock über Steine, wilden Enzian finden. In zartlila. Durchatmen. Weite genießen. Einsamkeit am Berg. Für einen Moment alles loslassen. Das geht hier. So gut:
“Unbarmherzig hart ist diese Wand, und doch, dachte sie, bietet sie Blumen Platz. Sie erzittern im Wind. Sie riechen die Welt.”
Textzitat Marianne Künzle Da Hinauf
Da hinauf von Marianne Künzle
Sie machte die Tour alleine. Warum wusste sie selbst nicht, war sie anfangs so gar nicht von der Idee ihrer Freundin begeistert gewesen auf den Gletscher zu gehen. Jetzt lag Melli krank im Bett und Annina hatte sich entschieden. Allein los zu laufen. Da hinauf. Dahin, wo ein Gletscher einmal majestätisch gewesen war. Jetzt war er geschrumpft, dick mit Staub bedeckt, von seiner Zungenspitze tropfte es stetig und man konnte seine einstige Größe nur noch an dem Tal erkennen, dass er sich freigeschoben hatte. In vielen Jahrzehnten.
Etliche Jahre vor Anninas Tour, hatte Irma einen Streit und war im Streit gegangen. Da hinauf. Irma allein am Berg. Karl, ihr Sohn war dagegen gewesen. Gegen ihren Ausflug auf den Gletscher. Wie gewohnt. Wenn sie sich beeilte würde sie zurück sein bevor er es überhauptbemerkte. So könnte sie seiner Zurechtweisung entgehen. Vielleicht. Einmal mehr hier oben allein sein. Im Gespräch mit ihrem verstorbenen Mann. So entschied sie sich für den Weg, der sie später schneller ins Tal bringen und der ihr mehr Zeit hier oben verschaffen würde. So dachte sie. Dann aberlockte sie, ein Spalt in Reichweite …
Marianne Künzle, geboren 1973 in Bern, lebt im Wallis. Die gelernte Buchhändlerin war viele Jahre Greenpeace-Kampagnenleiterin für ökologische Landwirtschaft und gewann für ihren Living Planet 2019 den Oberwalliser Literaturpreis. Zuvor erschien 2017 ihr erster Roman Uns Menschen in den Weg gestreut über das Leben und Wirken des Schweizer Kräuterpfarrers Johann Künzle, mit dem sie trotz gleichen Namens nicht verwandt ist.
Naturverbundenheit und zwei Frauen. Sie verbindet der gleiche Weg, es trennt sie die Zeit. Irma wandert in den fünfziger Jahren, Annina in unserer Gegenwart. Der Gletscher, dem beide begegnen hat sich gewandelt. Der einstige eisige Koloss tropft und an seinen Kanten ist das Eis brüchig geworden. Durchlässig. So wie das Leben der beiden, die jeweils an seinen Rändern balancieren, frieren und ohrenbetäubender Stille lauschen. Bis die eigenen Gedanken laut werden. Bis Fragen sich aufdrängen. Die vorher nicht da waren.
Die Sprache von Künzle hat Ecken und Kanten, manchmal habe ich mich an ihren Worten gestoßen, wie mit dem Fuß an einem Stein auf einem holprigen Weg. Dieser Text darf aber auch nicht rund sein. Sich weich anfühlen, denn so ist es hier nicht. Hier oben. Am Gletscher. Es hat Risse hier und Spalten, Geröllfelder und Steilhänge an denen einem rasch der Atem ausgeht. Abschüssige, unwegsame Passagen.
Wer kurze, poetische Texte mag die Innenansichten bieten, der wird diese Erzählung feiern, so wie ich. Der wird Marianne Künzles Plädoyer lauchen, so wie ich. Sie ist der Anwalt einer zerbrechlichen Natur, die wir als gottgegeben hernehmen und offenbar auch für unzerstörbar halten. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wissen es längst. Oder könnten es wissen, würden wir hinschauen. Wollen. Zumeist aber wenden wir den Blick ab. Diese Geschichte, mit den zwei geschickt verwobenen Zeitebenen, klagt nicht an, moralisiert nicht, sie macht sichtbar.
Es geht um alles, wenn sie verdichtet wie mit einem Brennglas. Am Berg ist eben alles möglich und wer den Respekt verliert, kann nur noch auf eine höhere Macht vertrauen. Sich anvertrauen. Es geht um den Aufstieg und den Abstieg, nur wer den ersten Schritt macht kann ankommen. Mit etwas Glück auch bei sich selbst.
“Das Gletschertor ist ein Schlund und aus ihm quillt der Bach. Ins Gurgeln mischt sich das hohle Aufschlagen von Tropfen, die in kaltem Takt von der Decke fallen. Jeder Tropfen ist Gletscher. Hier entwischt die Zeit.”
Textzitat Marianne Künzle Da hinauf
Ankommen am Ziel. Der Zeit entwischen, was für ein schönes Bild, gleich zweimal nimmt mich Marianne Künzle mit auf den Berg. Auf den Gletscher. Vielleicht wollen ihre beiden Wandernden ja genau das: Der Zeit entwischen, aus ihr herausschlüpfen wie aus alten Galoschen, aus Schuhen die drücken.
Durch zwei unterschiedliche Schriftarten sind die Ausflüge der beiden unterschiedlichen Frauen, die eine Witwe und Mutter eines erwachsenen Sohnes, die andere noch jung und am Beginn ihres Lebensweges, im Text abgesetzt.
Von einer der Touren komme ich nicht wieder zurück. Ich weiß es schon vorher und doch steige ich mit ihr auf.
Sekundenbruchteile entscheiden über Leben und Tod. So ist es immer. Geht man nur um Weniges fehl ist man verloren.
Offene Fragen. Offene Wege. Sie sind es die bleiben. Am Ende.
Mein Dank geht an den Verlag Nagel & Kimche für das Besprechungsexemplar das ich so gerne gelesen habe!
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