Carls Buch (Naja Marie Aidt)

Wir hoffen so wird es nicht enden,
so wird es nicht sein.
Wir werden zuerst gehen dürfen,
bleiben nicht allein.
Was wenn doch.
Wenn es einfach aufhört.
Ein Leben.
Unangekündigt.
Jetzt und gleich und unumkehrbar.

Das sind meine ersten Gedanken nachdem ich mit der Geschichte dieser Autorin begonnen hatte und dann: So kann man doch nicht schreiben! Doch, SIE kann und genau so muss es sein, wenn man versuchen will, dem unaussprechlichen eine Sprache zu geben.

Das Klingeln des Telefons unterbricht an einem Abend das Gespräch einer geselligen Runde und der Anrufer überbringt eine schreckliche Nachricht. Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben, gleich in welchem Alter sie sind und doch passiert es oft genug und genau das auch in diesem Fall.

Es ist März im Jahr 2015 und besagter Anruf kommt aus dem Krankenhaus. Es geht um Carl. Carl hatte einen Unfall. Ist gestürzt. Aus einem Fenster im vierten Stock. Er sei auf einem “bad trip” gewesen. Klärt man sie auf. Nach dem Genuss von psychedelischen Pilzen. Selbst gezüchteten. Carl ist fünfundzwanzig Jahre alt und noch lebt er. Schwerst verletzt. Carl ist der Sohn der Autorin Naja Marie Aidt und er wird es bleiben. Was auch bleibt ist die bohrende Frage, wäre er zu retten gewesen? Kommt an dieser Stelle der Polizei, den Polizisten im Einsatz eine Schuld zu? Quälende Recherchen und Bilder mutet sich Marie Aidt in der Folge zu. Weil sie verstehen will. Weil sie seine Mutter ist:

Hat der Tod dir etwas genommen

dann gib es zurück

gib das zurück

was du vom Toten bekamst

als der Tote am Leben war

als der Tote dein Herz war

gib es zurück an eine Rose

einen Kontinent, einen Wintertag,

an einen Jungen, der dich ansieht

Aus dem Dunkel einer Kapuze

Textzitat Naja Marie Aidt Carls Buch

Carls Buch von Naja Marie Aidt

Im Untertitel heißt es, “hat der Tod dir etwas genommen, dann gib es zurück”. Erst verstehe ich nicht, dann immer mehr. Aus Schock wird Stille. Wird Nichts. Wird Nicht-Zeit. “Froh” sind Naja Marie und ihr Mann, dass es ihnen beiden so ergeht und wollen es doch so nicht formulieren. Frohsein ist undenkbar. Denn Carl muss sterben. Er ist hirntot. Ein halbes Jahr braucht das menschliche Gehirn bis es sich an eine neue Realität gewöhnt habe, höre ich einen Krisenpsychologen sagen und ich lerne, das griechische Wort für Schmetterling ist psyche, es bedeutet zugleich Seele. Marie Aidt schreibt: “Wenn Sokrates über die Seele spricht, ist der Schmetterling also inbegriffen. Ein schöner Schatten, der im Inneren des Wortes Seele flattert.” 

Kann Literatur im Fall von Trauer und Verlust Trost spenden? Was vermag man mit Lyrik auszudrücken? Reicht sie tiefer, erreicht sie mehr mit weniger Worten? Aidt zitiert viele Dichter:innen und Schriftsteller:innen, vorwiegend aus dem skandinavischen Sprachraum, die über Schmerz und Verstehen, Zweifel und Angst nach einem Verlust geschrieben haben. Die sie braucht und liest als ihr ihre Sprache verloren geht, sie über Monate nicht mehr schreiben kann. Sie findet und sammelt Passagen und Textfragmente auf, die nicht nur sie berührt haben, sondern auch mich. Solche wie diese hier:

Eine rosa Rose

Im glitzernden Frost

Ein Diamantenherz

Und das orangerote Feuer

Du brachtest mich

zum bitteren Ende

Die Sterne explodieren um uns herum

Und man kann nichts, nichts dagegen tun

Zitat Ásdís Sif Gunnarsdóttir

Naja Marie Aidt, geboren 1963 in Grönland, lebt heute in Brooklyn. Die dänische Schriftstellerin und Dichterin wurde mehrfach mit renommierten Literaturpreisen preisausgezeichnet und gilt als eine der wichtigsten Stimmen Skandinaviens. “Carls Buch” wurde für den National Book Award nominiert und es zählt, laut Verlagsangabe, zu den besten Memoirs die in den vergangenen Jahren erschienen sind.

Wer dieses kleine Meisterwerk ungelesen durchblättert nimmt Textschnippsel wahr, die wie ausgestreut über die Seiten wirken. Mal kursiv, mal fett, mal dünn, mal kleingedruckt. Mal nur in Großbuchstaben, dann ohne Punkt und Komma, mit vielen Leerzeichen und Lücken. Ein Layout das Platz lässt für eigene Gedanken, die man als Leser:in unweigerlich formuliert. Ein jeder vermutlich andere. Ich die meinen. Ein Layout, das einer Autorin und ihrer Übersetzerin Raum gibt. Für einen Ausdruck, der mich an vielen Stellen sprachlos gemacht hat.

Man kann einen Ort verlieren, wie Marie Aidt auch Gepäck, das welches zwischengelagert vor einem Umzug in die USA, durch einen Brand zerstört wird. Ihr Sohn Carl schreibt ihr danach, “Das sind nur tote Dinge, Mama” und Emily Dickinson schreibt: “Aber sind nicht alle Tatsachen Träume sobald wir sie hinter uns lassen -?” Für Maire Aidt waren sie Anker und die Furcht den Halt zu verlieren, auf dem Fußboden sitzend, inmitten von Briefen und handschriftlichen Notizen ihres jüngsten Sohnes, will sie ihre Trauer besiegen, denn heilbar ist Trauer nicht …

Das die Sätze von Aidt das erreichen was sie erreichen, daran hat auch ihre Übersetzerin ins Deutsche Ursel Allenstein, geboren 1978 in Frankfurt, für mich einen großen Anteil. Sie wurde ebenfalls ausgezeichnet, für ihre Übersetzungen aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen, das bereits mehrfach. Ich bin ihr zuletzt in der Trilogie von Tove Ditlevsen begegnet, und zuvor in der von Maja Lunde. Man kann nicht oft genug betonen welch große Verantwortung Übersetzer:innen haben, wenn es darum geht den richtigen Ton zu treffen. Ganz besonders in der Lyrik stelle ich mir das unfassbar schwer vor. Wenn es dann so gelingt wie in diesem Fall, denn Naja Maria Aidt fasst ihre Gedanken und sich in einem lyrischen Text, den zu übertragen und aufzufangen eine grandiose Herausforderung gewesen sein muss, bleibt mir nur eines zu sagen: Bravo!!!

Beiden ist ein Text gelungen der mich schmerzt. Bis auf die Knochen. Ein Text der Hoffnung schenkt. Ein Text wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Text wie eine Umarmung. Ein Text der mich stolpern lässt und mein Herz gleich mit. Bei Marie Aidt diagnostizieren sie das Broken Heart Syndrome, auch Takotsubo-Kardiomyopathie. Aidt erklärt: “Takotsubo bedeutet Tintenfischkrug auf Japanisch. Das Herz gleicht einer Tintenfischfalle geformt wie ein schmalhalsiger Krug. In vielen Fällen ist Trauer die Ursache. Es ist ein vorübergehender Zustand. Er kann lebensbedrohlich sein.”

Niemand hat für mich bislang über den Schockzustand nach einem Verlust und über die Kraft, die es braucht weiterzuleben, besser geschrieben als sie es tut. Direkt und ohne Schnörkel, durchsetzt mit Tagebucheinträgen und Versen gibt sie der Trauer ein Gesicht. Das ihres Sohnes. Ihr eigenes. Sie gibt ihr Gewicht, entblößt mutig ihr Innerstes vor uns, die Angst ihren Sohn zu vergessen, und die Leichtigkeit mit der sie das schafft ist beängstigend schön.

“In der angehaltenen Zeit, in dieser neuen Zeit, in der Zeit, die nur aus dem einzigen Augenblick besteht, der genau jetzt existiert, kann man keine Pläne für die Zukunft schmieden.”

Textzitat Carls Buch Naja Marie Aidt

Nicht tot und doch tot. Wenn Hinterbliebene entscheiden müssen wann lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt werden, ob Organe gespendet werden sollen. In all ihrem Schmerz und Durcheinander gefragt werden, ob sie auch Haut und Knie spenden wollen, und das Herz, sein Herz, dann …

Naja Marie Aidt musste genau das tun. Entscheiden. Es hat sie für immer verändert. Ihr Schreiben, ihr Leben, ihr Denken und Fühlen. Ihre Lyrik. Die sie in der Rückschau betrachtet von Vorahnungen und Hellsichtigkeit geprägt empfindet.

Ich bedanke mich dafür, dass sie all das und auf diese Weise mit uns geteilt, uns Carls Buch geschenkt hat. Ich will nicht mehr Worte verlieren über ihr Buch. Über Carls Buch. Man muss es selbst lesen um zu spüren und bitte tut es!

Bedanke will mich auch beim Luchterhand Verlag für dieses Besprechungsexemplar und für das Verlegen von diesen 169 unfassbar grandiosen, klugen, mutigen Seiten.

Du hast mich leben gelehrt

als du hier warst.

Jetzt weist du mir den Weg.

Du wachst über mich.

Du siehst mich

durch meine Augen ….

…. Wir sind ineinander.

Textzitat Naja Marie Aidt Carls Buch
Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    2. November 2021

    Liebe Dorothee, sehr gerne, besonders ist es in jedem Fall. Sehr. Alles Gute für Deine Freundin. Vielleicht liest Du erst einmal rein, ob es für sie passen kann. LG von Petra

  2. Dorothee
    1. November 2021

    Liebe Petra!
    Danke für das Aufmerksammachen auf dieses Buch, das sehr besonders klingt! Vielleicht schenke ich es auch einer Freundin, deren Tochter unheilbar an Krebs erkrankt ist!
    Liebe Grüße aus Kiel- Dorothee

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert