Nachtdämmern (Steinunn Sigurðardóttir)

Im Wallis ist ein Berg zerbrochen. Seinen Gletscher hat er mitgerissen. Einen Ort begraben. Jetzt stauen so gewaltige Geröllmassen einen Fluß, dass man mit ihnen 36.000 Güterzüge füllen könnte. Die Berge sind unsere Konstanten. Zu Ihnen schauen wir auf. Sie halten uns, wir halten uns an ihnen. Ganze Landschaften verändern sich. Geologisch gesehen rasend schnell und so, dass es unaufhaltsam scheint. Eine, die ganz genau beobachtet was um sie herum geschieht. In ihrem Land. Mit ihrem Land. Mit ihrem Gletscher ist Steinnun Sigurðardóttir. Sie rührt mit ihren Gedichten, die in Nachtdämmern wunderschön kuratiert einem roten Faden folgen, an mir. Vom Vermissen, vom Wandel erzählt sie, von einem Gletscher, dem Vatnajöküll, im Südosten Islands, dessen Vergehen zum Symbol des Klimawandels geworden ist. Einen Berg aus Eis, in dessen Schatten sie aufgewachsen ist, dessen Licht sie hat atmen dürfen, stellt sie uns vor. Das was von ihm übrig ist.

Nach meiner Ósmann Lektüre, ihr erinnert Euch an meinen Beitrag zu diesem Roman von Joachim B. Schmidt, spürte ich eine schwere Islandvermissung, kramte alte Urlaubsfotos hervor, durchwühlte mein Bücherregal und stieß auf Steinunns Gedichte. Als hätte ich nach ihnen gerufen, kamen sie zu mir. Hatten stumm abgewartet, bis ich sie aufschlug, um mir von entstehenden Leerstellen, von einer Verbundenheit, einer tiefgehenden, naturgebundenen Erdung zu erzählen und ihr Ton, hat mir mein Herz gebrochen. Viel zu lange haben wir auf Zeit gespielt. Zeit das zu ändern …

NACHTDÄMMERN

Die Zeit, nicht mehr

essentiell

stürmt nicht mehr voran

dass sich auf ihrer wehenden mähne

das ewige blaue berglicht bricht.


Sie humpelt jetzt kahlköpfig am hang

im wachsenden schatten des berges

im ewig dämmernden land

ein greis zwischen tag und nacht.

Was Steinnun schreibt schmerzt, macht betroffen und wenn sie Einstein zitiert, mit “wenn die Biene verschwindet, verschwinden auch wir. Vier Jahre würde es dauern” wird deutlich, es geht hier und ihr nicht nur um Island. Zu einem traurigen Symbol des weltweiten Klimawandels ist dieser Gletscher geworden.

Wer ist diese Autorin, die so universell zu dichten vermag und so persönlich auch? Die geschickt gegliedert mit dieser Gedichtsammlung eine Geschichte erzählt, ihre eigene und die uns in den Spiegel unserer Taten schauen lässt. Mit einer Wehmut im Herzen, die ansteckt.

Steinunn Sigurðardóttir wurde am 26. August 1950 in Reykjavik geboren. Studierte Psychologie und Philosophie in Dublin, arbeitete bis in die 80ziger Jahre als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mit neunzehn Jahren ihren ersten Gedichtband «Sífellur». Die heute zwischen Berlin und Reykjavik pendelnde isländische Autorin machte sich mit ihren Romane «Der Zeitdieb» und «Herzort» auch international einen Namen. Für «Hjartastaður» wie Herzort im Original titelt, erhielt sie 1995 den Isländischen Literaturpreis. Ihr Zeitdieb, ebenfalls ein Roman-Erfolg, wurde 1998 in Frankreich verfilmt.

Nachtdämmern von Steinunn Sigurðardóttir

Eisklar, ein wenig rauh an den Kanten, einem knappen Versmaß folgend, in einer Schlichtheit und Reduziertheit, die was sie formuliert nur noch deutlicher hervortreten lässt. Steinunn Sigurðardóttir und ihr Übersetzer Kristof Magnusson, sein eigener Roman «Ein Mann der Kunst» hat mir sehr gefallen, finden mehr als meisterlich Worte für das, was nicht mehr zu leugnen ist:

Islands vielleicht berühmteste Dichterin wendet sich dem sterbenden Großgletscher Vatnajökull im Südosten ihres Landes zu. Das tut sie, in dem sie beginnt davon zu erzählen, wie es war, die einst gewaltige schimmernde Kuppel eines Eisberges als Nachbarn zu haben. Wird persönlich. Erzählt davon, in seinem Schatten aufzuwachsen, hier seine Träume zu hüten, ihn immer in der Nähe zu wissen. Als unvergänglich wahrzunemen. Als Konstante. Sie studiert im Ausland, kommt zu ihm zurück, hat ihn nie vergessen. Empfindet ihn als Teil ihrer Identität.

Die Frage wer die Isländer sind, wenn ihr Is, das Ice, das für ihre Herkunft namensgebend ist, vergeht, wirft sie nicht nur zwischenzeilig auf. Sie widmet ihr ein Gedicht, fragt sich selbst, was bleibt. Was ihr bleibt.

Nicht über EINEN Gletscher zu schreiben sei ihre Motivation gewesen, Nachtdämmern handle von IHREM Vatnajökull, höre ich Sigurðardóttir bei einer Lesung sagen.

Wir, die wir ihn heute sehen, mögen ihn noch immer beeindruckend finden, Steinunn kennt ihn anders, als hoch aufragende Kuppel, nicht als flache Scholle und vermisst ihn. Vom Wasser genommen, wird er wieder zu Wasser werden, schreibt sie. Geröll, einen ganzen Berg davon, lässt er zurück.

GERÖLLBERG

Der gletscher, ewig

aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.

Aus wasser und lebenden farben.

* * *

Der Zerbrechliche zerspringt
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir gleichgültigen
ehrlosen heizten an,
ließen taten ... auf taten folgen ...

* * *

Vatnajökull vom wasser genommen

Zu wasser wird er werden

Es bleibt ein gelähmter geröllberg

an des lebendigen gletschers stelle.

* * *

Die schönheitstage der kostbaren lichtberge schwinden.
Die festlichen anlässe.

Es übernehmen fade alltagsberge. Etwas schön etwas hässlich. Sehen von anfang an aus wie sie selbst.

Wie schön ist bitte dieses Wort “Lichtberg” und wie profan und selbsterklärend dagegen ” Alltagsberg”. Wir verstehen sofort, es wühlt mich auf.

Steinunns Vater lebte am Fuß des Vatnajöküll, sie hat ihre Sommer hier verbracht, erinnert sein Schimmern im Sonnenlicht, ihre Träume, ihre Erwartungen, die in seinem Schatten wuchsen, die an ein erfülltes Erwachsenenleben. Hier blickte sie auf Möglichkeiten, Trauer und Wehmut löst die Tatsache aus, dass mit dem Vergehen des Eises auch seine Farben verschwinden.

Beim Lesen ihrer Verse schlucke ich, empfinde Ohnmacht im Angesicht des von Menschen gemachten Klimawandels, der am Beispiel Islands so drastisch zu Tage tritt und ich erinnere mein eigenes Erschrecken, als ich vor ein paar Jahren erst an der Pasterze des Großglockners stand und auf die Markierungen schaute, wie weit die Zunge seines Gletschers einst ins Tal reichte. Wie schmutzig und klein sie heute wirkt. Was alles ist um uns herum verschwunden, seit wir Kinder waren?

Ein Symbol der Unvergänglichkeit wird vergänglich, sagt Sigurðardóttir in dieser Lesung, veranstaltet vom Literaturhaus Zürich, die ihr noch auf YouTube nacherleben könnt, auch das lohnt sich. Sie erzählt davon, wie es war noch vor Fünfzig Jahren in Reykjavik beim morgendlichen Blick aus dem Fenster auf einen großen Gletscher, den man heute nicht mehr sieht, den Tag zu beginnen.

Das Land aus Eis und Feuer, verliert seine gefrorende Seele. Elf Prozent Islands sind/waren von Eis bedeckt, das Land verändert sein Gesicht in einer Geschwindigkeit, die geologisch betrachtet rasend ist. Fragen aufwerfend, zwischenzeilige und offensichtliche, beobachtet Steinunn Sigurðardóttir mit ihrer einzigartigen Gedichtsammlung diese Veränderung. So gerne wie ich sie gelesen habe, so sehr haben sie mich auch angepackt. Wie könnte man da nicht mitfühlen und sich gleichzeitig auch fragen, was kann ich, was können wir tun? Um zu verhindern, zu verlangsamen? Eine Umkehr scheint mir unmöglich. So wie wir leben. Es auch nach wie vor wollen. Der mähfreie Mai kann uns helfen, Schottergärten verbieten auch, aber retten wird uns das allein nicht.

Einen von Steinnuns Romanen, am liebsten Herzort, möchte ich nach diesen Gedichten noch entdecken und sollte mir mein Wunsch erfüllt werden und ich Island einmal wiedersehen dürfen, dann werde ich ihre Gedichte im Gepäck haben. Noch einmal lesen, gern laut, möchte ich sie dort, vor Ort. In der Weite oder am Ufer eines Fjords, vielleicht sogar zu seinen Füßen. Am Vatnajökull. Wenn es ihn dann noch gibt.

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