Sonntag 04.11.2018
Die Stufen unserer Holztreppe knarrten immer, auch dann, wenn ich auf Socken und Zehenspitzen unterwegs war, die Clogs mit der Holzsohle in der Hand, in der Mittagsstunde. Eine seltsame Ruhe legte sich dNN auf den Tag, fast schon eine Heimlichkeit hatte das.
Draußen verstummte der Maschinenlärm, man hielt sich an diese Pause zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr, selbst wenn es schwer fiel weil das Tagwerk auf Erledigung drängte. Auch meine Oma Anna achtete diese Zeit. Pünktlich um zwölf Uhr stand das Essen dampfend auf dem Tisch, damit um eins das Geschirr wieder im Schrank und die Küche gefegt war. Mein Opa Wilhelm machte dann ein Schläfchen auf dem Chaiselounge in der Küche. Für uns Kinder war das dann das Zeichen ebenfalls Ruhe zu halten.
Heute scheint es mir, als warte man genau dieses Zeitfenster am Tag ab, vor allem Freitags und Samstags, um genau dann alle Geräte die Lärm machen, aus dem Schuppen und der Garage zu holen und so richtig loszulegen. Ob Hochdruckreiniger, Laubbläser, Rasenmäher oder Traktor, Schlagbohrhammer oder Kreissäge – jetzt schlägt ihre Stunde.
Ihr merkt schon, dass in mir bereits beim Lesen des Titels von Dörte Hansens neuem Roman eine gefühlte Million Bilder aufgestiegen ist. Schauen wir doch mal, was in ihrem Brinkebüll um diese Zeit und auch sonst so passiert …
Mittagsstunde (Dörte Hansen)
Marret und ihre Klapperlatschen, die sie Sommers wie Winters trug, schief getreten und ausgelatscht. Wozu noch Schuhe kaufen? “De Welt geiht ünner!” Die Welt ging ja ohnehin bald unter, überall sah sie dafür Zeichen. Der erste Sommer ohne Störche, die abgestorbenen Ulmen am Ortsrand, das tote Rehkitz im Messerbalken des Jungbauern, der daraufhin nie mehr dreschen wollte. Im Dorf hatte man sich an Marrets Prophezeiungen gewöhnt, an ihren unbeirrbaren Glauben vom bevorstehenden Weltuntergang. Sie gehörte mit der Verbreitung ihrer Botschaften, den heimlichen Besuchen in ihren Küchen, zum Ort wie der Aufgang und Untergang der Sonne. Selbst der Pastor ließ sie gewähren. Er hatte ohnehin unter den wettergegerbten Friesen einen harten Stand und drang selten genug zu ihnen durch. Gut, es konnte einen schon erzürnen, wie viel mehr man geneigt war der orakelnden Marret zu glauben, als einem Mann Gottes und der Botschaft des Herrn …
Schöner fremder Mann … Mit siebzehn hatten andere noch Träume und Marret Feddersen wurde schwanger. Als sie, so verdreht wie sie war merkte, dass da “etwas” war, was nicht mehr “weggeiht”, sprang sie nachts mit den Beinen zuerst vom Heuboden in die Tiefe. Statt des Herzens ihres ungeborenen Kindes brach sie sich beide Füße. Die Eltern fanden sie früh morgens, halb erfroren in ihrem dünnen Nachthemd, unübersehbar war jetzt ihre Schande und die Scham riesengroß …
Dörte Hansen, die Erfolgsautorin des Romans “Altes Land” ist nach drei Jahren zurück. Und wie! Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse durfte ich Dörte Hansen bei einem Interview live erleben und wäre ich nicht schon ihr Fan gewesen, dann hätte es spätestens dort gefunkt. So eine sympatische, geerdete Frau!
Ehe ich mich versah, war ich verliebt in diesen neuen Text von ihr. Von der ersten Silbe bis zum letzten Punkt, in die Figuren, in das ganze Dorf. Hatte die Bewohner Brinkebülls wie Nachbarn, wie Freunde ins Herz geschlossen. Liebevoll und wertschätzend nimmt sie den Mikrokosmos “Dorf” unter die Lupe.
Was für eine Beobachtungsgabe diese Frau hat! Von außen wie von innen betrachtet, im Großen wie im Kleinen, zeichnet sie ihre Geschichte so wie ein Maler mit ganz feinem Pinsel. Jede Falte ihrer Figuren kann man sehen, jede Ackerfurche, jeden windzerzausten Baum.
Die Zeit heilt alle Wunden sagt man, in ihrem Brinkebüll schlägt sie aber auch jede Menge. Bauern die am Ende ohne ihren Hof da stehen, in Gummistiefeln in ihren leeren Ställen, zu der Stunde, zu der sie immer, ein Leben lang aufgestanden sind, auf deren Feldern jetzt statt Weizen und Gerste, Sonne- und Windkraft angebaut werden. In norddeutscher Schonhaltung, den Kopf ein- und die Schultern hochgezogen trotzen sie Wind und Wetter und ihrem Land ab was geht.
“Den Kopf nach Osten, weg vom Westwind, der in den kahlen Bäumen randalierte wie ein durchgedrehter Feldherr, an Zweigen riss und Eichenstämme rempelte. Ein alter Wind, der viel gesehen hatte, Findlinge geschliffen. Jetzt peitschte er den Regen und ließ die Fahnen stramm an ihren Masten stehen. Drei Tage ohne Pause, wenn ihm danach war”.
Ein ganz ein feiner, ein trockener Humor wohnt in diesem Roman. Ihr Brinkebüll in Schleswig-Holstein, einhundert Kilometer von Kiel entfernt, ist ein fiktiver Ort und doch könnte er überall sein. Hier trifft man auf kreidewerfende Volksschullehrer, die auch ihren erwachsenen Schülern noch die Leviten lesen, selbst dann wenn sie mittlerweile Bürgermeister sind. Auf alte Ehepaare, die seid siebzig Jahren verheiratet sind und sich immer noch nichts schenken, die die Peilung in ihrem Leben längst verloren haben, mit dem Rollator viel zu schnell unterwegs sind und vergessen haben, dass es den Bäcker und den Krämerladen im Ort nicht mehr gibt.
Wir lernen gemeingefährliche Ponys, prügelnde Väter, Line Dancer, Sternbild-Legastheniker, Hitparaden auf zwei Beinen und zahlreiche Ohrwürmer kennen. Treffen in einer deutschen Gaststube auf Dörfler beim Weihnachtsfrühschoppen, der Mittags um drei amtlich abgefüllt zu Hause auf dem Sofa endet und unter der Woche auf einsame Kümmerling-Trinker, die auf einem altersschwachen, röchelnden Mofa ihren Weg hierher finden. Auf Kinder die zu Wutpaketen werden, auf Hochschullehrer die für ein Sabbatjahr den Hörsaal gegen Putzeimer und Fensterleder tauschen.
Hier schweigt man sich schon auch mal stoisch in Grund und Boden. Eine Flurbereinigung die Anfang der Siebziger Ordnung und Gradlinigkeit in eine Landschaft bringen soll, der ihre Buckel und Kehren so gut gestanden hatten, führt zu Zank und Streit. Im Schankraum der Dorf-Wirtschaft werden da auch schon mal Schuhe geworfen, wenn die Worte fehlen, Blut fließt. Jacketknöpfe werden abgerissen, wenn man sich den Nachbarn zur Brust nimmt. Beim Wirt bleibt ein verstauchter Zeigefinger zurück, nachdem er dazwischen gegangen ist. Auf sanierten Dorfstraßen, denen man die Bäume wie kranke Zähne gezogen und ihre schattenspendenden Laubdächer abgerissen hat, wütet der Wind durch den Ort, als wolle auch er sich darüber beschweren.
Jeden zweiten Donnerstag hubt der Bücherbus die Brinkbüller in der Mittagsstunde von den Sofas, die Zeit spült Städter in das Dorf, deren Frauen die kürzesten Röcke tragen, die man im Ort je gesehen hat. Unter Heimatdichter-Himmeln versammelt sich hier ein buntes Völkchen liebenswerter Zeitgenossen. Ich lächle mein Schreiben und denke an den alten Herrn, der auf seiner Runde durch unser Dorf immer für ein Schwätzchen bei mir anhielt, wenn ich Unkraut jätete, bis er eines Tages nicht mehr kam …
In der Mittagsstunde, in dieser stillen Zeit erlebt Brinkebüll, an einem strahlend schönen Junitag, aber auch seine größte Tragödie. Bilder die der ganze Ort nicht mehr vergessen wird. Bei dieser Beerdigung stehe auch ich neben den Brinkebüllern, mit gesenktem Haupt und schwerem Herzen.
Das Dorf folgt seinen eigenen Gesetzen, es vergißt nicht. Ein Leben mit dem Land und der Landwirtschaft hat einen anderen Rhythmus. In Rückblenden, mit viel Zeit, und als würde ein Gedanke von einer Figur zur anderen gereicht spinnt Dörte Hansen ihre Geschichte, als bestünde ihr roter Faden aus kostbarer Seide, schimmernd und zart. Sie schreibt dabei so kitschfrei über Alter, Nähe und Einsamkeit, das mir der Hals eng wird und das Herz weit.
Heimat ist ein Gefühl das schwer zu beschreiben ist und es braucht dafür Sätze die Ecken und Kanten haben, die in uns einen Ton treffen, der hell und klar klingt. Dörte Hansen hat diese Sätze in ihrem Repertoire. Wort um Wort, Satzzeichen um Satzzeichen baut sie daraus kleine Kunstwerke.
“An Bord war immer noch der Wirt. Das Parkett im Saal war grau geworden, wund getanzt. Ein alter Boden wie ein Dorfchronist. Man hatte hundert Jahre Brinkebüll in dieses Holz gestampft. (Textzitat)
Hörbuch-Fassung mit Hannelore Hoger. Als Schauspielerin kennen wir sie in der Rolle der Bella Block, wunderbar eigensinnig verkörperte sie diese Kommissarin. Zu den Texten von Hansen paßt sie einfach wie “Topf und Deckel”. Voller Empathie liest sie, mit einer Stimme, die knarzt und wärmt, auch mal ein Wort altersgerecht wegnuschelnd, aber nicht so, dass es schädlich wäre – im Gegenteil. Sie zieht hier alle Register ihres Könnens und hat mir damit mein Lieblings-Hörbuch 2018 geschenkt. Wenn Sie liest, fühle ich mich wieder wie ein Mädchen, dass zu ihren Füßen sitzt, sie im bequemen Ohrensessel, ich eine dampfende Tasse Kakao in der Hand …
Die im friesischen Dialekt eingeworfenen Sätze liest sie ohne zögern und stolpern, als wäre ihr genauso der Schnabel gewachsen. Diesmal singt sie sogar Schlagertexte und Volksliedanfänge mit. Sie macht sich rar als Hörbuch-Vorleserin was eine wahre Schande ist, aber Leute, wenn so ein Ergebnis dabei raus kommt, wenn sie sich für einen Text entscheidet, dann warte ich gerne!
“Der Wind war immer noch der alte. Er schliff die Steine ab und knickte Bäume, beugte Rücken. Auch diesem alten Wind war es egal was Menschen taten, ob sie blieben oder weiter wanderten. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch”.
Oohh Dorothee – da beneide ich Dich glühend und wünsche Dir eine tolle Veranstaltung! LG von Petra
Nach Deiner Rezi freue ich mich nun noch mehr auf die Lesung der Autorin! Meine Stammbuchhandlung hat sie eingeladen!