Es gibt diese Geschichten, die sind ganz rasch nach Erscheinen in aller Munde. Vielleicht auch schon vorher und das völlig zurecht. Manchmal triggert ein Inhalt, manchmal der Name einer Autorin, eines Autoren. Namhafte Rezensent:innen überschlagen sich. “Trust the hype”, sagen die Einen. “Nee, lass mal”, sagen dann die Anderen.
Ob ich mich auf einen solchen Roman einlasse, hängt meist nicht davon ab, was ich so höre oder darüber lese, mir ist eher noch wichtig wer empfiehlt da und dann entscheidet tatsächlich meist mein Bauch, weil da in mir ein Glöckchen klingen muss.
Ein ganzer Glockensturm läutet in Pia, der Heldin dieses Textes und zunächst schafft sie es noch ihn zunächst zu überhören …
Kleine Monster von Jessica Lind
Achtung, anschnallen! Es gibt kein Vorgeplänkel. Bei Kleine Monster geht es gleich zur Sache. Die Autorin wirft uns, ihre Leser:innen, hinein in ihre Geschichte, wie sie auch Pia und Jakob, die Eltern von Luca, sieben Jahre, damit konfrontiert was geschehen ist. Lucas Lehrerin hat sie einbestellt. Auf viel zu kleinen Stühlen sollen sie ihr gegenbersitzen und hören von einer Anschuldigung, die eine Klassenkameradin gegen ihren Sohn erhebt. Nicht zum ersten Mal. Wie die Lehrerin betont. Was sich wie ein Verhör anfühlt, ist das Hinterfragen ihrer elternlichen Fürsorge und es muss ja einen Grund geben. Für ein solches Verhalten. Näheres erfahren wir nicht. Aber Pia ist wütend. Ihr Mann beschwichtigt.
Aus der WhatsApp Gruppe der Eltern schließt man sie noch am gleichen Tag und klammheimlich aus. Es kommt zum Eklat zwischen Pia und einem anderen Elternteil. Der Mutter von Lucas bestem Freund. Der plötzlich keine Zeit mehr hat und Pia wird wütender. Was wird geredet hinter ihrem Rücken über sie, über Luca? Wer ist das Mädchen, das ihr Sohn gezwungen haben soll? Wozu frage ich mich, Pia und Jakob scheinen es zu wissen, derweil die Autorin für uns nur andeutet und das meisterlich.
Jessica Lind, geboren 1988 in St. Pölten, Österreich, wo sie auch ihre Geschichte verortet, lebt in Wien, arbeitet als dramaturgische Beraterin und selbstständige Drehbuchautorin. Im August 2021 erschien ihr Debütroman Mama (den muss ich mir jetzt unbedingt auch noch anschauen!) mit Kleine Monster legt sie jetzt, knapp drei Jahre später, bei Hanser Berlin nach. (Herzlichen Dank für das Besprechungsexemplar!), dessen Cover unfassbar gut den Kern des Romans einfängt.
"Wir drei sind eins, Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind." (Textzitat Jessica Lind)
Wir sind, wer wir sind, unsere Vergangenheit, unser Erleben, unsere Erziehung prägen uns. Lassen uns wachsen oder schwinden. Wie viel der Eltern, steckt in ihrem Kind? Wie viel erziehen wir ihm an? Welche Fehler machen wir dabei? Was projezieren wir?
Nicht verrückt machen lassen, wie soll das gehen, wenn alle reden, nur das eigene Kind schweigt. Es nur eine Aussage gibt auf die alle hören, die niemand in Zweifel zieht, außer einer Mutter. Die Zweifel hat. Weil sie sich kennt und meint sich in ihrem Sohn zu sehen.
Zweifel die beginnen als ihr Sohn des morgens auf dem Sofa sitzt, als sie ihn wecken wollte, sein Bett aber ohne ihn und nass vorfindet. Beim Abziehen entdeckt sie dann aber weder Flecke noch einen urintypischen Geruch. Aber das Wasserglas, das sie abends immer an sein Bett stellt ist leer. Eine Inszenierung? Manipuliert er sie?
Dann DER Streit. Wieder sitzt sie vor ihm und er mauert. Dann schlägt er sie. Ihr Sohn. Mit einem Buch. Hart an die Schläfe. Sie kann es nicht fassen. Im Gerangel zwar, aber es bleibt wie es ist, nie zuvor haben sie sich gegenseitig verletzt. Jetzt schweigt sie. Erzählt es nicht ihrem Mann und ihr Sohn. Tut es ihr gleich. Papa erfährt nix. Ihr gegenüber aber fällt dieser Satz – “damit du keinen Ärger bekommst”. Uff!
"Es gibt Dinge, die werden nicht mehr gut.
Schon gar nicht, wenn man sie ans Licht bringt.
Ich halte inne.
Vielleicht ist Lucas Schweigen ja so gemeint.
Er will uns vor der Wahrheit beschützen."
(Textzitat Jessica Lind)
Atemlos bin ich diesem Text gefolgt. Wer hält hier womit hinter dem Berg? Was ist DIE Wahrheit? Was in Pias Kindheit geschehen? Ihr Verdacht wird zu meinem und ich merke, wie ich immer wieder die Luft anhalte. Weiter atmen!
Wie Lind schreibt und dabei schweigt, dem Ungesagten Raum gibt, nicht alles zu Ende erzählt, fand ich großartig. Das sie dabei in der Perspektive von Pia bleibt auch. So tastet man sich als Leser:in behutsam vor, kommt ihr sehr nah. Sehr bildhaft, mit zahlreihen Rückblenden die Pias Kindheit ausleuchten, nährt sie ihren Text. Eine Verfilmung könnte ich mir ungeheuer gut vorstellen, mit einem intensiven Spiel würde die Geschichte noch mehr unter die Haut gehen. Oder nein, eigentlich nicht. Das was sie in meinem Kopf und mit meinem Herzen, zwischen ihren Zeilen und Sätzen anstellt, schafft kein Bild. Wie oft wir Erinnerungen, die wir sammeln nicht mehr so zusammensetzen können, dass sie das ursprüngliche Bild ergeben. Immer, denke ich. Kaum ein Konflikt, der nicht genau daraus seine Kraft zieht.
Zuletzt habe ich im Roman Matara des finnischen Autoren Matias Riikonen gestaunt, wie es ist durch Kinderaugen zu sehen und mir die Frage gestellt, wo bisweilen die Neigung zu verbaler und körperlicher Grausamkeit in diesem Alter herkommt. Einfache Antworten darauf scheint es mir nicht zu geben, dafür tritt auch diese Geschichte den Beweis an.
Gefühle noch nicht beherrschen und nicht benennen können, so lautet hier ein theoretischer Ansatz, der der Hilflosigkeit zu begegnen versucht, die man spürt wenn einem jemand gegenüber sitzt, der verbissen schweigt. Arme verschränkt, Lippen zu. Ende. Jessica Lind lässt mich beben.
Eine Schwester fehlt. Eine Mutter verliert eine Tochter. Dann eine zweite. Anders. Es herrscht Schweigen. Endgültiges. Feiges. Trauriges Schweigen.
Da lauert etwas Dunkles zwischen ihren Sätzen, da kauert etwas Abgründiges am Ende ihrer Absätze. Was ist geschehen, damals, als Pias kleine Schwester mit nur vier Jahren starb.
Kindliche Wutanfälle, Idealbilder von Geschwisterliebe und Familie. Eine Vergangenheit, die irrlichtert. Die nicht greifbare Erinnungsfunken sendet. Gefühle zündet, die unter der Oberfläche schwelen. Tick Tack, höre ich die Bombe.
Die kleinen Monster haben es in sich, erzählen auf einer gegenwärtigen und auf einer vergangenen Ebene von Trauer, Schuldgefühlen, geschwisterlicher Liebe, einem Schicksalsschlag. Einer Adoptivschwester. Einem Nesthäkchen. Von Schatten. Inneren und Äußeren. Von Angst und Vermissen. Einer Leerstelle.
Der Waldsee auf dem Cover und der Riss, der durch ihn hindurch geht, öffnet ein Fenster. Ein Erinnerungsfenster nicht nur für Pia. Eines das fest verschlossen war …
Jessica Lind dreht ihre Geschichte. Entwickelt ihr Geschichte so ganz anders als erwartet. Was mich immer immens freut, wenn es unvorhersehbar bleibt und am Ende offen. Wir sind, wer wir sind, weil geschehen ist was war und vielleicht ist zu verzeihen, nicht nur den anderen, sondern sich, das Schwierigste überhaupt.
Je mehr Raum wir einem Thema geben, desto mehr Raum nimmt es sich. Konflikte unter den Teppich kehren führt allerdings ebenso ins Off. Pia steht an einem inneren Scheideweg und sieht sich allein an dieser Kreuzung. Wie wird sie sich entscheiden?
Kein Wunder also, ich oute mich am Ende angekommen jetzt auch als Fangirl und würde gerne noch recht viele willkommen heißen im Club! Im Fanclub der kleinen Monster!
"Vielleicht ist nicht alles schwarz oder weiß.
Es ist Zeit, in den Schattierungen zu leben."
(Textzitat Jessica Lind)
Schreibe den ersten Kommentar