Für Anna (Simone Scharbert)

Früh am Morgen. Die Strahlen der Sonne sind noch kurz, liegen auf meinem Weg zum Dienst und vorbei an einem Bachlauf, auf einer Lichtung. Alle Bäume dort noch ohne Laub. Bis auf einen. Der frei steht. Kleiner als die anderen. Weiß blühend. Zart wie eine Erscheinung. Was hätte ich jetzt gerne einen Fotoapparat zur Hand, um abzulichten was mein Auge sieht. Um mich hinterher zu wundern. Über das Gefühl, dass mich flutet, wenn ich dieses Foto dann anschaue. Ein gutes Foto bildet nicht nur den Moment ab, es friert ihn ein. Laut und leise. Pixel für Pixel. Vermag es Erinnerungen zu wecken.

“Der ganze Tag aus Zeit gewoben, ein dünnes Flechtwerk, durchscheinend. Anna zieht an den Rändern, zieht die Zeit ins Weite. Mit aller Kraft.” Textzitat S. Scharbert

Für Anna – Eine Belichtung von Simone Scharbert

1806, Anna ist sieben Jahre alt und Simone Scharbert eröffnet mit und über die Zeit. Mit einem Vers und schnappt nach mir. Nach meiner Leseseele. Wenn Simone schreibt hinterlässt sie Spuren auf meinem Herzen. Es ist so, als sehe sie mich. Immer und ich schließe ab und zu beim Lesen die Augen, lasse mir ihre Sätze auf der Zunge zergehen. Spüre ihnen nach. Wie wunderbar wieder einen neuen Text von ihr in Händen zu halten. Für mich ist ein jeder kostbar wie ein Schatz. Ein Leseschatz. Auch diesen hier hat die Edition Azur by Voland & Quist verlegt, ein herzlicher Dank geht raus für dieses Besprechungsexemplar. 

Simone Scharbert, geboren 1974 in Aichach, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Literatur, lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Erftstadt. Es gibt einige Lyrikveröffentlichungen von ihr, die ich an anderer Stelle noch vorstellen möchte. Verweisen möchte ich hier noch einmal auf ihren 2022 erschienener Roman “Rosa in Grau. Eine Heimsuchung” der in mir Sturm geläutet hat. Warum ist das so, fragt ihr? Gern verlinke ich Euch am Ende noch einmal auch meinen Beitrag dazu.

Simone Scharbert schafft es mit ihren Prosatexten auf poetische Art Frauen sichtbar zu machen, denen die Zeit oder andere ihr Licht gestohlen haben.

Diesmal geht es um Anna Atkins, geboren 1799 in Tonbridge, England und verstorben 1871. Bis heute gilt sie als eine der ersten Fotografinnen des viktorianischen Zeitalters. Seinerzeit war es noch üblich mit Hilfe der Malerei und Illustration zu bebildern und zu dokumentieren. Anna Atkins begann mit einem einfachen manuellen Verfahren zu arbeiten, es entstanden mittels Licht und UV-empfindlich beschichtetem Papier sogenannte Cyanotypien, die bis heute als Vorläufer der Fotografie gelten.

Tief geht das, der Blick auf dieses Leben, das Simone Scharbert nachzeichnet, es rührt etwas in mir auf, dass ich nur schwer mit Worten beschreiben kann. Anna war begeistert von allem was wächst, bereits ein Blumenstängel vermochte sie zu inspirieren. Wenn ich mir vorstelle, mit welchen Augen man das in dieser Zeit betrachtet haben muss was sie tat. Sie muss gegen Wände gerannt sein. Vor allem als Frau. Als Frau in der Wissenschaft. Ohne Chance auf ein Studium.

Anna wächst auf. Allein beim Vater. Allein beim Großvater, wenn der Vater auf Reisen ist. Wenn der Vater forscht, sammelt ihr schreibt. Sie lernt.

Er schenkt ihr eine neue Mutter. Beide verbinden sich. Anna geht eine Bindung ein. Ein Geschwister ist unterwegs. Dann wiederholt sich die Geschichte. Das Kind kommt tot zur Welt. Die Stiefmutter stirbt. Sie tragen wieder schwarz. Der Vater verschwindet in sich.

Anna wird sechzehn. Sitzt in Vaters Labor. Er lehrt sie. Macht keinen Unterschied zwischen ihr und den Erwachsenen die ihn umgeben. Oft ist sie das einzige Mädchen, wenn diskutiert wird und Anna saugt alles auf. Wie ein Schwamm und zeichnet während der Vater experimentiert. Anna wird neunzehn. Zeichnet immer noch. Mit und gegen die Zeit. Kehrt Inneres nach außen. Ihre Hände auf Papier. Kunstfertig. Durchscheinend. Licht einlassend. Licht erschaffend.

“Let there be light. John Childrens Licht ist anders als gewöhnliches Licht. Sein Licht besteht aus Fragen, aus Möglichkeiten. Ein heller Kegel, zieht und zerrt an den Dingen, will mehr wissen, gibt sich nicht zufrieden mit bisherigen Annahmen, alles müsse aufs Vielfältigste und Genaueste unter sucht werden, schreibt John Children, viewed in every possible light …” Textzitat S. Scharbert

Wir begleiten Sie bei diesem künstlerischen Erwachen. Simone Scharbert bleibt ganz nah bei ihr. Macht sie sichtbar für uns. Nahbar.

Waterloo. Am 18 Juni 1815 sterben hier in einer Stunde 4.000 Männer. Insgesamt 50.000. Der Vater will diesen Schauplatz, den Tod besichtigen, der auch ihm zwei Ehefrauen, ein Kind, die Mutter und erst kürzlich den Vater genommen hat und Anna fährt mit ihm. Bleibt bei ihm. Wie sie das immer tut.

Auch als er ein drittes Mal heiratet. Wieder aufgeht in seiner Arbeit für das British Museum. Selbst fasst sie keinerlei Heiratspläne. Bleibt als junge Frau ohne Mann, vertieft ihr Wissen in der Botanik, findet eine eigene Ordnung für die Dinge. Dann entzünden sich ihre Augen so schwer, so das sie fast erblindet. Wir schreiben das Jahr 1825 George IV. wird König, ausschweifend treibt er das Königreich an den Rand seiner Existenz, schreibt Simone Scharbert.

Die Zeit, das was bleibt als Anna das Augenlicht fehlt, nimmt einen neuen Platz in ihrem und dem Leben des Vaters ein. Dabei ist es ihnen immer schon um die Zeit und die Vergänglichkeit gegangen. In allem pflanzlichen ist sie beheimatet, im Blühen und Welken, im Wachsen und Schwinden.

Als es Anna besser geht, betritt doch ein Mann ihre Lebensbühne. John Pelly Atkins. Großgrundbesitzer mit Zuckerrohrplantagen auf Jamaika. Ein Freund des Vaters und zehn Jahre älter als sie. Er unterstützt und versteht sie und sie nimmt ihn an, obwohl sie mit sechsundzwanzig fast schon zu alt zum Heiraten ist. Sagen alle. Keine gute Partie ist obendrein, mit ihrem Eigensinn.

Die Zeitung, der Mirror, an diesem Morgen verändert er ihr Leben, ihr Zeichnen. Er zeigt auf dem Titel a photogenic drawing, das Abbild eines Farnwedels genau und ungenau zugleich. Zart, licht und wunderschön. So etwas hat sie noch nie gesehen, der Farn für sie beim Zeichnen der Endgegner, nie kann sie die Details die ihn ausmachen erfassen, jetzt eröffnet sich eine Möglichkeit. Endlich.

Derweil erlebt John Atkins im fernen Jamaika einen Aufstand und die in Kraftsetzung des Gesetzes zum Verbot der Beschäftigung von Sklaven.

Wie macht sie das nur, die Simone Scharbert, dass ich die Frauen über die sie schreibt, so schreibt, immer meine umarmen zu können. Ihr Erzählen verkörperlicht. Botanisches, Personen. Ihre Sprache überbrückt Räume. Die Schönheit ihrer Sätze treibt mir die Tränen. Auch diesmal. Sie rühren mich an, wühlen mich auf und ich mag das. So sehr.

Nichts ist beliebig und kein Wort zu viel. Verse schließen sich Sätzen an. Alles fügt sich. Ineinander. Aneinander. Mein Herz klopft im Takt dieser Buchstaben. Mit Simone Scharberts Texten wird man eins. Dafür verehre ich sie. Auch.

Was für ein seltener Genuss ihre Geschichten sind. Ich suche nach Worten um Euch zu beschreiben was sie mit mir machen. Finde hoffentlich die passenden. Bin mir sicher. Simone Scharberts Texte werden Euch finden, wenn es Zeit dafür ist. Ich möchte sie an Euer Herz legen. Denn sie sind ein Geschenk. Herz und Seele stecken in ihnen. Klugheit und Verstand. Danke, liebe Simone. Für soviel. Auch für Rosa in Grau:

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