Man liest von einem Machtvakuum, in dem sich Finnland nach der russischen Oktoberrevolution 1917 befunden habe, schlägt man die Begriffe Finnland und Bürgerkrieg online nach. Die fortschreitende Industrialisierung und das Aufbegehren gegen ständisches Leben schwappte auch in den eisigen Norden. Es kam zu einem Generalstreik und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem 27. Januar und 5. Mai 1918, der das gerade erst von Russland unabhängig gewordene Finnland in seinen Grundfesten erschütterte und unzählige Todesopfer forderte. Vor dem Hintergrund dieses Geschehens entführt uns der Roman aus der Feder von Katja Kettu in ein Moor an der Grenze. Zwischen Russland und Finnland und mitten hinein in das Leben einer jungen Frau, die dort als Verdingmädchen lebt, als Heilkundige, die dieses Wissen nicht offen teilen darf. Die wenig wert ist und die das ändern will …
Forschungen einer Katze von Katja Kettu
Was auch immer da schief gelaufen war, die Manifestierung dieser Seele hatte jetzt den Körper einer Katze und das Amt für Forschung und Unterstützung der Lichten Lebensformen hatte es offenbar verpatzt und sie, es, ihn, nicht in den 2020zigern im Helsinkier Nobelstadtteil Eira landen, sondern 1917 irgendwo im Norden von Finnland, das zu der Zeit noch ein russisches Gouvernement war, abstürzen lassen.
So beginnt diese Geschichte und man ahnt kein Stück, wo sie einen hin und wie weit sie einen in die Vergangenheit führen wird …
Katja Kettu, geboren 1978 in Rovaniemi/ Lappland, da kommen übrigens auch Lordi her, ihr erinnert Euch an den Sieg dieser Hard Rock Band, mit den Gruseloutfits, 2006 in Athen, beim Grand Prix D’Eurovision zum ersten Mal für Finnland? Anyway, Kettu, Schriftstellerin, Animationsregisseurin und Filmproduzentin, veröffentlichte 2005 ihren Debütroman, für den sie mit dem Tiiliskivi-Preis ausgezeichnet wurde. 2014 erschien ihr vielfach ausgezeichneter Roman Wildauge in deutscher Übersetzung, verfilmt unter dem engisch Titel The Midwife. Es folgten Feuerherz (2017) und Die Unbezwingbare (2021).
Für mich ist diese Geschichte die erste von ihr und ich frage mich gerade warum. Aber besser spät als nie eine neue Lieblingsautorin entdecken und das Schöne daran ist, dass es eben schon weitere Titel gibt, die man sofort entdecken kann. Zumal ich, nach der Lektüre von Matias Riikonen und seinem Roman Matara die finnische Literaturlandschaft im Auge behalten wollte.
Kettu schafft es Tragik augenzwinkernd und mit einer Leichtigkeit zu verpacken, dass es so wirkt, als schüttelten sie, respektive ihre Übersetzerin Tanja Küddelsmann, diese schönen Sätze nur so aus dem Handgelenk. Katja Kettu wählt eine Erzählart, die alles Andere als beliebig ist und dafür habe ich ihren Roman, glaube ich, am meisten gemocht. Dann folgt ihre vereinnahmende Sprache und Tanja Küddelsmann hat für mich mit ihrer Übersetzung maßgeblich zum Gelingen dieses Textes im Deutschen beigetragen. Wie wunderbar dieses Handwerk doch ist! Welche Lesewelten es uns erschließt.
Wer eine Katze hat oder einmal hatte, der weiß um deren Eigensinn und das diese Tiere für uns ein Stück weit rätselhaft bleiben, gleich wie lange wir mit ihnen zusammenleben. Die alten Ägypter und auch die Kelten haben Katzen gar übersinnliche Fähigkeiten zugeschrieben. Mit ihren scharfen Sinnen soll Ihnen das Sehen von Geistern und die Abwehr des Bösen möglich sein. Bis heute hat sich der Gedanke gehalten, dass Katzen, die einem Menschen zulaufen, das Symbol dafür sind, das wer offen für Veränderungen ist, ab jetzt auf neue Gelegenheiten hoffen darf. Von daher ist dieser Figurenschachzug von Katja Kettu, eine Katze als Bindeglied zwischen, ja, dem Irdischen und dem Nichtirdischen einzubauen, ein cleverer. Doppeldeutig eröffnet sie mit ihm in dieser Geschichte neue Wege und Möglichkeiten.
Aber mal zurück auf Anfang. Was passiert hier?
Kettu lässt einen Geistführer erzählen, der viele Namen hat und doch namenlos ist. Ein guter, eine sympathische, gebildete Person (soweit die Eigenbeschreibung, weil eine “Person” ist in diesem Fall relativ). Es ist vielmehr eine Seele, die offenbar versucht durch positive Auftragserledigung die Ewige Ruhe zu erlangen und gerade im Körper einer Katze steckt.
Und nein, so beruhigt sie uns sogleich, keine Sorge, es wird hier nicht um “chaotisches Wortgeklingel oder ekstatische Zustände von emotionalem Tumult” (ein Zitat, zur Klarstellung für uns Irdische) gehen, sondern um das Forschen und Sammeln von Wissen für eben dieses Amt für Forschung und Unterstützung der Lichten Lebensformen. Es gilt eine Kette von Ereignissen zu Ende zu führen. Auch wenn lange, eigentlich bis zum Schluß des Romans, unklar bleibt was das sein soll. Auch wieder clever.
Zu diesem Zweck wird unser Erzähler, unsere Erzählerin (?) auf die Erde entsandt und landet, weil eventuell die Himmlische Forschungsabteilung Mist gebaut hat oder wegen eines Unfalls, so genau weiß man das nicht, in der falschen Zeit und am falschen Ort. In dem Glauben lässt Kettu uns. Lange.
Kaum angekommen und orientiert, wetzt das Amt seinen Fehler aus, die wilde Zeitreise wird übergangsweise fortgesetzt und endet an ihrem ursprünglich geplanten Ziel. Bei einer Schriftstellerin, ebenfalls namenlos und rasch ist klar womit sie kämpft. Mit einer Fehlgeburt. Und dann, Zack, geht es wieder hundert Jahre Retour.
Sehen und spüren zwischen den Zeiten. Wie geht sich das aus?
Also doch! Es sind zwei Erzählebenen, aber wo ist die Verbindung? Ich bleibe dran, weiter geht die Reise durch Raum und Zeit und Klick, da ist sie. Die Brücke, der Übergang zwischen den beiden Handlungssträngen. Sie wird uns zugespielt in Form eines alten, doppeltbelichteten Fotos. Darauf zu sehen: Eeva und Mahte die vor rund hundert Jahren gelebt haben, sie sind Ururgroßmutter und Urgroßvater unserer Schriftstellerin und als die aus ihrer tiefen Verzweiflung nach dem Verlust ihres Kindes nicht mehr aufzustehen vermag, spielt eine Katze ihr dieses Foto zu, verstößt damit gegen alle Regeln und erhebt die Stimme. Allerdings aus dem Verborgenen, so dass unsere Schriftstellerin erst glaubt, jetzt sei sie endgültig dem Wahnsinn verfallen. Die Stimme fordert sie auf zu reisen. Zurück zu ihren Wurzeln. Dorthin wo die Urgroßeltern gelebt haben und sie folgt.
Wie geschickt von Kettu sie hier zu erden. Uns damit zu zeigen, welche Zwänge, auch patriarchale sie binden.
Groß ist auch der Wunsch bei Eeva und Mahte gewesen, Mitte der 1930zigern in Freiheit und Unabhängigkeit zu leben, soziale Gerechtigkeit zu erfahren, ein Auskommen zu haben, dem Hunger zu entkommen. Mahtes Brüder sind schon drüben. In der Sowjetunion, ihnen aber will das Auswandern nicht gelingen, unterwegs bricht sich ihr Pferd ein Bein, was ein Glück im Unglück. Wenig später schon hört man von blutigen Auseinandersetzungen, Mahtes Brüder wollen nach Finnland zurück, aber man hält sie fest und ein Herr Hitler aus Deutschland mit seinen Schergen, immer mehr sympatisieren jetzt auch hier mit ihm, sorgt für Angst und noch mehr Schrecken. Die Welt ist im Wandel, Krieg zieht auf. Die Not auch bei ihnen groß und so geben sie doch ihre Tochter in Stellung statt in die Schule und ihr begabtes Mädchen fügt sich. Mit Zorn im Blick.
Ein wütender Himmel jagt sie fort, die Russen kommen. Briefe aus Amerika, die nach Streik, Rauch und Benzin riechen. Nach Unrecht und Diskriminierung.
Tagebucheinträge und der Blick der Katze auf die Figuren dieser Erzählung wechseln sich ab. Sie zeichnen für uns ein Leben in Armut nach, berichten von sozialen Unterschieden, von brausenden Polarlichtern, samischem Blut, von politischen Wirren, Gefangenschaft, von einem Kreuzzug der Kinder, als niemand mehr übrig ist. Vom Weltgeist, vom Leben im Moor, von Wildkräuterei und von Liebe. Von einem Mann, der seine Geliebte wie eine Gefangene hält, in einem Käfig aus Glas.
Von der tiefen Spaltung einer Nation erfahren wir. Lange hat es gedauert bis Finnland eins war und einig. Bis Frieden herrschte im Innen wie im Aussen.
Für mich gehört dieser Roman zu den Ungewöhnlichsten die ich bislag gelesen habe. Ist Eskapimus pur. Die beiden Lesarten die Kettu anbietet, die historische und die gegenwärtige, verbindet sie grandios. Ihre Eeva, so tough, so beherzt und voller Leidenschaft, mochte ich sehr.
Wie frech auch, die Geschichte so zu erzählen und Kettus Sound, so eigenwillig ohne manieriert zu wirken, den fand ich ganz famos. Ihre Lust an der Formulierung, der Fantasiereichtum und die gleichzeitige Ernsthaftigkeit dieses Textes, machen ihn zu einem Erlebnis. Einem seltenen. Einem das für sich steht und jetzt mal ehrlich, dieses Cover aus dem Hause Weissbooks ist doch allein schon der Hammer (lieben Dank für das Besprechungsexemplar)!
Gleiches gilt für die Haptik des Buches. Es springt einen förmlich an. Auf die gute Art und ich wünsche mir, dass es das von vielen Büchertischen aus tun darf.
Eine gute Reise Euch, wenn ihr Euch dafür entscheidet und gebt gut acht, man kann rasch sein Leseherz verlieren. Besonders an Eeva.
Schreibe den ersten Kommentar